Verdirbt Geld den Charakter? (Teil 1)
Veröffentlicht am: 26.05.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 26.05.2025 von Jan Göritz
Es heißt, Geld würde den Charakter verderben. Aber wie sollte das funktionieren? Hat es magische Kräfte? Natürlich nicht. Woher der Spruch stammt, ist nicht klar belegt, aber er hält sich wohl schon seit einigen Generationen.
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Geld verändert nicht den Charakter – es ist ein Charakterverstärker. Denn sobald es ins Spiel kommt, zeigt sich, was im Alltag für uns oft unsichtbar bleibt: Werte, Prioritäten, Umgang mit Macht – und nicht selten pure Angst.
Häufig genug erlebe ich in meiner Praxis, wie Geld auf Menschen und (familiäre) Systeme wirken kann. Völlig unerheblich ist dabei, ob es sich um verhältnismäßig kleine oder sehr große Beträge handelt.
Meistens geht es um Macht, emotionale Abhängigkeit oder Sicherheit. „Macht“ und „Sicherheit“ mit dem Thema „Geld“ in Einklang zu bringen, ist wahrscheinlich einfach. Aber was haben Scheine und Münzen mit emotionaler Abhängigkeit zu tun?
Wenn Geld in familiären Beziehungen auftaucht – ob als Erbe, als Unterstützung, als Erwartung – beginnt oft ein Spiel, das nicht nach finanziellen, sondern nach emotionalen Regeln funktioniert.
Und genau da wird es spannend: Geld bringt die emotionalen Leichen im Keller des Systems ans Licht.
Immer wieder fällt mir auf, dass es Menschen gibt, die sich wirklich hart abstrampeln dennoch nicht auf einen grünen Zweig kommen. Häufig ist mindestens ein sehr dominantes Elternteil mit dem Spiel und es war häufig eine emotional kühle Atmosphäre, in der diejenigen aufgewachsen sind.
Es liegt nicht an mangelnden Fleiß, es wirkt fast so, als wären die betroffenen Menschen nicht fähig, für sich zu sorgen.
Wie Vogelküken, die zu früh aus dem Nest geworfen werden. Ein ständiger Kampf ums Überleben, mit Leben hat es jedoch häufig wenig zu tun.
Sie haben Ihrer Mutter versucht, die Hand zu reichen, aber sie hat immer nur Scheine hineingelegt.
Ein ehemaliger Klient, der sehr lange mehr ausgegeben hat, als er zur Verfügung hatte – er sammelte Sneaker – bekam finanziell Boden unter die Füße, als er erkannte, dass der heutige Mangel an Geld den früheren Mangel an Liebe repräsentierte.
Als ihm das bewusst war und er begann, mit seinem inneren Kind zu arbeiten, veränderte sich Schritt für Schritt auch die Lage seiner Finanzen.
Eine andere ehemalige Klientin kam voller Wut zu mir, weil ihre Eltern ihr Haus dem Bruder vererbt hatten, ohne dass jemals vorher darüber gesprochen wurde.
„Ich war eben immer nur Nummer zwei“, sagte sie. „Bei uns in der Familie waren Frauen immer schon weniger wert, als Männer“ berichtete sie.
Auch hier ging es um Macht – und im Falle der Klientin Ohnmacht.
Wir konnten die Fakten natürlich nicht verändern, aber sie hat sich im Laufe der Therapie so entwickelt, dass sie keine Zweifel mehr in sich trug und daraus den Schritt in die emotionale und wirtschaftliche Abnabelung gehen konnte.
In der Bindungstheorie nach John Bowlby (1969) gilt: Wer in der Kindheit sicher gebunden war, kann leichter loslassen, Grenzen setzen, Autonomie entwickeln – auch finanziell.
Doch was, wenn das nicht der Fall war?
Dann wird Finanzielles zum emotionalen Ersatz – für Sicherheit, Liebe und Anerkennung.
Eltern, die ihren Kindern zu wenig emotionale Autonomie geben, fördern unbewusst eine anhaltende ökonomische Abhängigkeit – oft bis weit ins Erwachsenenalter. (Studie von Swartz et al. (2011))
Eine Klientin schilderte mir einmal ihre Kindheit so: „Meine Mutter sagte immer, dass sie nicht Liebe durch Geld und Materielles ersetzen wollten. Rückblickend war es eine Farce. Meine Eltern haben so legitimiert, mich finanziell und materiell kurz zu halten. Von Liebe war aber auch nichts zu spüren. Es war insgesamt eine wenig liebevolle Atmosphäre.“
Ein anderer Klient bekam immer Schuldgefühle, wenn er neue Kleidung oder Schuhe benötigte, weil er aus den alten rausgewachsen war. „Ich würde mir ja auch gerne mal wieder was schönes kaufen“, seufzte seine Mutter dann stets, „aber das ist halt nicht drin, wenn du so schnell wächst…“ Sie können sich sicher denken, wie groß die Freude über die neuen Sachen war.
Das Verhalten der Mutter war übrigens reine Schikane, wie der Klient als Erwachsener feststellte, hatten seine Eltern einen sehr guten finanziellen Background.
Und dann gibt es Klienten, deren Eltern Geld nicht bewusst als Machtmittel eingesetzt haben, die aber trotzdem in punkto Materiellem ungünstig geprägt worden sind.
So mancher Mensch ist reich geworden, weil er Angst hatte, arm zu werden.
Finanzielle Schwierigkeiten lassen sich vor Kindern nur schwer verstecken. Zum einen merken sie meistens, dass sich die Familie nicht so viel leisten kann, wie andere Familien.
„Adidas-Schuhe wären das Größte für mich gewesen. Mit meinen No-Name-Schuhen gehörte ich nicht richtig dazu“, berichtete ein ehemaliger Klient.
Eine andere Klientin fand ihre Mutter weinend und mit einem Brief in der Hand in der Küche vor. Die Eltern waren selbstständig und der Brief war ein Schreiben vom Finanzamt mit einer hohen Nachforderung, die sie völlig unerwartet traf und ihre Existenz bedrohte.
Je mehr Vergnügen Du an Deiner Arbeit hast, umso besser wird sie bezahlt. (Mark Twain)
„Tief in meinem Herzen wäre ich auch gerne selbstständig, Herr Göritz. Ich habe schon den großen Wunsch nach Selbstbestimmtheit. Aber dieser Moment mit meiner weinenden Mutter hat sich so tief eingebrannt, dass ich mich nicht traue.“
Unsere Beziehung zu Geld ist keine Einbahnstraße. Sie ist zwar durch unsere Kindheit, Eltern und Freunde geprägt. Aber sie ist auch veränderbar.
Was wir in frühen Jahren als Mangel, Schuld oder Druck erlebt haben, wirkt oft unbewusst weiter – in unserem Konsumverhalten, in der Angst vor Selbstständigkeit oder in der Unfähigkeit, Hilfe anzunehmen, ohne sich klein zu fühlen. Doch es gibt einen Unterschied zwischen Prägung und Bestimmung.
Jede bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Finanzverhalten – ob im Coaching, in der Therapie oder im Alltag – ist ein Schritt zurück zur Selbstverantwortung. Und damit auch: zur Freiheit.
Denn Geld zeigt nicht nur den Charakter. Es zeigt auch die Wunde – und damit den Ort, an dem Heilung beginnen kann.
Teil 2 folgt am 9. Juni 2025
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