Mach dich gerade – innere Schonhaltung und ihre Folgen

Veröffentlicht am: 21.07.2025 von Jan Göritz

Haben Sie sich schon mal den Rücken verrenkt oder Verspannungen im Schulterbereich gehabt? Falls ja, dann wissen Sie wahrscheinlich auch mit dem Begriff „Schonhaltung“ etwas anzufangen. Da steht man vielleicht nicht mehr so ganz gerade, weil der Schmerz dann größer ist, aber wenn man sich so ein bisschen nach links neigt, dann ist es aushaltbar. Und weil unser Gehirn so wunderbar anpassungsfähig ist, eicht es sich dann einfach neu und „schräg links“ ist das neue „gerade“ – fertig.

Zumindest so lange, bis man darauf angesprochen wird, warum man denn so schräg durch die Gegend laufe. Wenn man sich daraufhin bei einem Orthopäden, einer Chiropraktikerin oder einer Physiotherapeutin Unterstützung sucht, dann wird man schnell feststellen, wie sehr sich dieser „schräge“ Zustand schon als das neue Normal manifestiert hat.

Genau das Gleiche kann uns auch auf der inneren Ebene passieren. Wenn Sie seelischen Schmerz erlebt haben – ob Trauma, Kränkung, Verlust oder auch Dauerstress – entwickeln Sie oft unbewusst eine innere Schonhaltung.

Und genau wie bei der körperlichen Schonhaltung fühlt es sich erst einmal „schräg“ an, wenn Sie beginnen, sich innerlich wieder aufzurichten.

Was ist eine innere Schonhaltung?

Eine innere Schonhaltung ist eine unbewusste Anpassung Ihres Denkens, Fühlens oder Verhaltens, die eigentlich dem Schutz vor seelischem Schmerz, Ablehnung, Scham oder Unsicherheit dient. Sie entsteht oft in belastenden Lebenssituationen – und wird mit der Zeit zur zweiten Natur.

In der Haltung des Körpers verrät sich der Zustand des Geistes. Durch die Körperbewegung spricht gleichsam des Geistes Stimme. (Ambrosius)

Typische innere Schonhaltungen:

  • „Ich halte lieber den Mund, dann gibt’s keinen Streit.“
  • „Ich helfe allen, dann werde ich sicher gemocht.“
  • „Ich lasse niemanden an mich ran – Nähe tut nur weh.“
  • „Ich funktioniere, egal wie’s mir geht.“

Das Problem bei inneren Schonhaltungen ist, dass sie nur kurzfristig helfen. Langfristig machen sie eher krank. Sie können zu Depressionen, Angststörungen oder Burnout führen.

Warum sich Veränderung oft falsch anfühlt

Einige meiner Klientinnen und Klienten berichten: „Ich weiß ja, was ich tun müsste – aber es fühlt sich so falsch an.

  • Sie sagen zum ersten Mal Nein und fühlen sich schuldig.
  • Sie zeigen zum ersten Mal ihre Wut und denken, sie sind ein schlechter Mensch.
  • Sie weinen in einem Gespräch und haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

Das Paradox dabei ist, dass die alte, schmerzhafte Haltung sich vertraut und sicher anfühlt. Die neue, gesunde Haltung fühlt sich fremd und gefährlich an, manchmal sogar wie verboten.

Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung. (Dietrich Bonhoeffer)

Wie kommt das?

Unser Nervensystem liebt Vertrautes – selbst wenn es toxisch ist. Es unterscheidet nicht zwischen „gut“ und „schlecht“, sondern zwischen „bekannt“ und „ungewohnt“. Was neu ist, kategorisiert unser System erstmal als Risiko. Und das fühlt sich immer schlechter an als das, was wir kennen.

Beispiel aus der Praxis

Eine ehemalige Klientin, Anfang 40, sprach im Vorgespräch von ihrer seit Jahren andauernden Erschöpfung. Als ich nach den Lebensumständen fragte, zeigte sich schnell, dass sie sich – neben Beruf und Familie – seit vielen Jahren intensiv um ihre Mutter kümmerte. Nicht, dass sie krank oder pflegebedürftig gewesen wäre. Nein, die Mutter hatte angeblich außer ihrer Tochter keine Sozialkontakte mehr.

“Ich kann einfach nicht mehr. Aber ich darf doch meine Mutter nicht enttäuschen. Die hat doch niemanden sonst.”

Es wurde schnell deutlich, dass „die hat doch niemanden sonst“ durchaus mit dem übergriffigen Verhalten der Mutter zu tun hatte.

In der Therapie arbeitete sie heraus, dass die Klientin bereits seit ihrer Kindheit die emotionale Last ihrer Familie getragen hatte. Sie hatte gelernt, dass „alles zusammenbricht, wenn ich nicht funktioniere“. Es ging so weit, dass sie schon im Grundschulalter als Mediatorin für den Frieden zwischen Mutter und Vater zuständig war. Je älter sie wurde, desto mehr übernahm sie die Verantwortung, die eigentlich die der Eltern gewesen wäre.

Und sie empfand es als eigenes Versagen, als sich ihr Vater doch irgendwann von der Mutter trennte, was das Verantwortungsgefühl in Richtung Mutter noch größer werden ließ.

Aber nun saß sie mir gegenüber und war am Ende ihrer Kraft. In einer späteren Phase der Therapie sprach sie davon, dass sie zu Beginn „gerade noch auf dem Zahnfleisch“ in meine Praxis kriechen konnte.

Schnell war klar, dass das Thema „Grenzen setzen“ zentral sein würde. Genauso war es auch und die Klientin brauchte – trotz aller Erschöpfung – einige Wochen, um „Anlauf“ zu nehmen. Und als sie dann begann, Grenzen zu setzen, fühlte sie sich erst einmal sehr egoistisch. Als sie das erste Mal nicht ans Telefon ging, wenn ihre Mutter anrief, hatte sie ein solch schlechtes Gewissen, dass sie später zurückrief und sich dafür entschuldigte, nicht rangegangen zu sein.

Wer nichts für andere tut, der tut nichts für sich. (Johann Wolfgang von Goethe)

Irgendwann jedoch war das schlechte Gewissen für sie händelbar – und „einfach nicht ans Telefon gehen“ fühlte sich nach Wiedererlangen eigener Stärke und Freiheit an.

Nach ein paar Monaten sagte sie plötzlich: „Ich habe gemerkt, dass ich mich immer noch schuldig fühle, wenn ich mich um mich selbst kümmere. Aber eigentlich geht es mir dann besser.”

„Ich darf das!“ wurde ihr Mantra, das ihr sehr geholfen hat, sich von vielen inneren Schonhaltungen zu befreien.

Wie Sie Ihre eigene innere Schonhaltung erkennen

Wie so oft ist auch hier ein gewisses Maß an Selbst-Ehrlichkeit gefragt. Denn wie eben schon erwähnt, steht unser Gehirn Veränderungen im ersten Moment eher ängstlich gegenüber.
Ich habe hier vier typische Anzeichen für eine innere Schonhaltung, sowie vier Fragen zur Selbstreflexion für Sie zusammengestellt:

Typische Anzeichen für eine innere Schonhaltung:

  • Sie fühlen sich in Beziehungen oft verantwortlich für das Wohlergehen anderer.
  • Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn Sie sich um sich selbst kümmern.
  • Sie trauen sich nicht, Ihre Meinung zu sagen – aus Angst vor Ablehnung.
  • Sie vermeiden Konflikte, auch wenn es bedeutet, sich selbst zu verraten.

Fragen zur Selbstreflexion:

  • Wo wiederhole ich Verhaltensmuster, obwohl sie mir nicht guttun?
  • Wann habe ich das letzte Mal Nein gesagt – und wie fühlte sich das an?
  • Was fühlt sich für mich „sicher“ an – obwohl es mich langfristig kaputtmachen kann?
  • Welche Gefühle vermeide ich konsequent – z. B. Wut, Trauer, Bedürftigkeit?

Wenn Schweigen zur Schutzmaßnahme wird – innere Schonhaltungen im gesellschaftlichen Kontext

Innere Schonhaltungen entstehen nicht im stillen Kämmerlein. Sie haben ihren Ursprung immer im Kontakt mit anderen Menschen. Häufig haben sie beispielsweise ganz direkt etwas mit gesellschaftlichen Erwartungen beziehungsweise den entsprechenden Sanktionen zu tun, wenn man diese Erwartungen nicht erfüllt. Ich las vor einiger Zeit die Kolumne Ist der Feminismus zu weit gegangen? von Margarete Stokowski. Dort fielen mir einige Punkte auf, die sehr gut zum Thema der „inneren Schonhaltung“ passen.

So beschreibt Margarete Stokowski eindrücklich, wie viele Frauen lieber traurig oder melancholisch erscheinen möchten, als wütend. Während Wut bei Männern nämlich eindeutig als Stärke interpretiert wird, werden wütende Frauen eher als gehässig und feindselig angesehen. In der Folge haben bislang viele Frauen gelernt, ihre Wut in sozial verträglichere Gefühle umzulenken, also nicht negativ aufzufallen.

Gleichzeitig sind es Frauenhass und Frauenverachtung, die gesellschaftlich nach wie vor etabliert sind, während Rufe nach Veränderung schnell mit dem Schlagwort „Männerhass“ zum Schweigen gebracht werden. Möglicherweise befinden wir uns also auch gesamtgesellschaftlich in einer inneren Schonhaltung. Wir richten uns in einer Haltung ein, die Sicherheit suggeriert, aber auf Dauer Unzufriedenheit und Schmerz erzeugt. Genau das ist das Wesen der inneren Schonhaltung: Sie fühlt sich nicht deshalb richtig an, weil sie gut für uns ist, sondern lediglich, weil wir sie gewohnt sind.

Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken. Die ihr zugrunde liegende Haltung ist die Demut. (Erich Fromm)

Und auch das lässt sich aus Stokowskis Text herauslesen: Frauen, die sich öffentlich gegen Sexismus äußern, sehen sich oft massiver Kritik ausgesetzt – während andere Frauen, die das Problem kleinreden, als „vernünftig“ oder „ausgewogen“ anerkannt werden. Das ist kein Zufall. Es zeigt, wie perfide stabil bestimmte Strukturen sind und wie sehr das Bedürfnis nach Anerkennung (und Ruhe) dazu führen kann, sich unbewusst gegen die eigene Integrität zu stellen. Eine innere Schonhaltung, die gesellschaftlich belohnt wird, ist schwer zu durchbrechen.

Aber Veränderung beginnt oft genau dort, wo es unangenehm wird. Wo die eigene Wut plötzlich nicht mehr unterdrückt werden muss, sondern gespürt werden darf. Wo ein Nein nicht mehr leise geschluckt, sondern ausgesprochen wird, auch wenn die Stimme dabei zittern mag. Und wo wir uns ehrlich fragen: Welche Haltung habe ich eigentlich? Und möchte ich, dass sie so bleibt?

Der Weg zur gesunden Haltung – trotz Unsicherheit

Veränderung braucht Mut – und ja: Geduld. Ich habe mich gerade gefragt, was von beidem den meisten Menschen schwerer fällt. Vermutlich die Geduld, denn wenn man den Mut aufgebracht hat, möchte man die Veränderung doch häufig sofort.
Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass sich das Neue ungewohnt und unbequem anfühlt und man diesen Sprung lieber schnell vollziehen möchte.

Zum Abschluss noch vier Tipps, die bei fast jeder Veränderung hilfreich sind:

  • Mini-Schritte statt Mega-Sprünge: Sagen Sie z. B. erstmal in kleinen Situationen Nein, bevor Sie große Grenzen setzen.
  • Körper als Kompass: Wenn Sie eine neue Haltung ausprobieren – wie fühlt sich das körperlich an? Zittert Ihre Stimme? Engt sich Ihre Brust ein? Oft zeigt der Körper die gespeicherte Angst.
  • Gefühl ist nicht gleich Wahrheit: Nur weil Sie sich schuldig oder unsicher fühlen, heißt das nicht, dass es falsch ist.
  • Selbstempathie üben: Würden Sie mit einer guten Freundin auch so hart ins Gericht gehen wie mit sich selbst?

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Innere Schonhaltung - Jan Göritz - Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologischer Berater, Psychotherapeut (HeilprG) in Hamburg

FAQ

Was ist eine innere Schonhaltung?

Eine innere Schonhaltung ist ein unbewusst erlerntes Denk-, Gefühls- oder Verhaltensmuster, das ursprünglich dem seelischen Schutz diente. Sie entsteht häufig in belastenden Situationen und hilft kurzfristig, mit Schmerz, Angst oder Unsicherheit umzugehen. Langfristig kann sie jedoch blockierend wirken und das psychische Wohlbefinden einschränken – ähnlich wie eine körperliche Fehlhaltung.

Woran erkenne ich, ob ich in einer inneren Schonhaltung feststecke?

Typische Anzeichen sind: Sie fühlen sich dauerhaft erschöpft oder innerlich abgeschnitten, vermeiden Konflikte um jeden Preis oder haben ständig ein schlechtes Gewissen, wenn Sie sich abgrenzen. Auch das Gefühl, ständig funktionieren zu müssen oder keine „echte“ Wut zeigen zu dürfen, kann auf eine innere Schonhaltung hinweisen.

Warum fühlt sich Veränderung manchmal „falsch“ an, obwohl sie gut für mich ist?

Unser Nervensystem bewertet nicht, ob etwas gesund oder ungesund ist – sondern ob es vertraut ist. Eine neue, gesunde Haltung (z. B. sich abzugrenzen oder eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen) kann sich anfangs unsicher oder falsch anfühlen, einfach weil sie ungewohnt ist. Das ist kein Zeichen von Scheitern, sondern ein natürlicher Teil des Veränderungsprozesses.

Wie kann ich eine innere Schonhaltung auflösen?

Der erste Schritt ist das Erkennen des Musters – oft hilft hier therapeutische Begleitung. Danach geht es darum, sich neue Handlungsspielräume zu erarbeiten, zum Beispiel durch Selbstreflexion, Körperarbeit oder gezielte Übungen zur emotionalen Selbstfürsorge. Wichtig: Veränderungen brauchen Zeit und Wiederholung, damit sich neue, gesunde Haltungen im Inneren verankern können.

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