Fühl Schmerz!
Veröffentlicht am: 11.08.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 11.08.2025 von Jan Göritz
Ein echter Kontakt mit Ihrem emotionalen Schmerz fühlt sich bestimmt nicht gut an, ist aber der wirkliche Beginn von Heilung und Wachstum.
Mir gegenüber sitzt meine Klientin Frau Schmidt. Ihre Körperhaltung ist angespannt, ihr Blick ist wachsam, als müsse sie jederzeit mit Angriffen rechnen.
Sie ist intelligent und reflektiert und hat „schon viel gemacht“. Sie spricht hier von persönlicher Weiterentwicklung: Coachings, Seminare und Kurse, wie zum Beispiel zum Thema „Achtsamkeit“. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Kinder – im Job ist sie Führungskraft. Sie hat also im Allgemeinen „alles gut im Griff“, wie sie selber sagt.
Und doch gibt es manchmal Momente, in denen sie „die Fassung verliert“ und „ausrastet“ oder „heult wie ein Baby“.
Und auch jetzt, hier in meiner Praxis, steigen ihr plötzlich Tränen in die Augen. „Ich weiß gar nicht, was gerade los ist …“, sagt sie, und ihre Verunsicherung ist mit Händen zu greifen.
Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen. (Marie von Ebner-Eschenbach)
Sie hatte mir gerade erzählt, wie respektlos ihr Chef manchmal mit ihr umgeht, und ich hab lediglich gefragt, was denn in einer solchen Situation gerade nicht passieren darf.
„Ich habe eine Idee, was los sein könnte“, sage ich. „Vielleicht geht es gar nicht um das jetzt, vielleicht geht es viel mehr um das Damals. Überlegen Sie mal, wer früher ähnlich mit Ihnen gesprochen hat.“
Jetzt spürte sie den Schmerz, jetzt durfte er endlich sein.
Der Schmerz, den sie sich über Jahre mühsam vom Leib gehalten hat. Die Wut, die Enttäuschung, die Angst, die Scham. All das drängt jetzt wieder an die Oberfläche.
Wir leben in Zeiten, in denen „alles gut“ eine echte Chance darauf hat, den Titel „am häufigsten verwendete Floskel“ zu bekommen.
Für emotionalen Schmerz scheint zurzeit wenig Platz zu sein. Am liebsten würden wir den auch noch schnell wegoptimieren, um ein ähnlich tolles und unproblematisches Leben zu haben, wie unsere Instagram-„Freunde“.
Doch in meinen Augen und aus der Erfahrung aus meiner Praxis ist dies ein Trugschluss. Denn wir können nur das bearbeiten, was wir auch fühlen. Und ob wir wollen oder nicht: Er ist ja längst da und er beeinflusst uns und unser Leben möglicherweise umso mehr, je weniger wir ihn wahrhaben möchten.
Schmerz verlangt, gefühlt zu werden. (John Green)
Ob Traumata aus der Kindheit, ungelöste Konflikte oder nicht erfüllte Grundbedürfnisse: Alles hinterlässt Spuren in uns, ob wir wollen oder nicht. Und der Schmerz findet seinen Weg. Vielleicht eine chronische Krankheit wie Colitis ulcerosa, vielleicht aber auch eine Aneinanderreihung toxische Beziehungen. Schmerz ist nicht weg, wenn wir uns weigern, ihn zu fühlen. – er maskiert sich.
Und schlimmstenfalls bildet sich ein Gefühl von innerer Leere aus, das durchaus als Vorstufe zur Depression angesehen werden kann.
Die Frage, ob es einem nicht schlechter geht, wenn man den Schmerz zulässt, wird mir häufiger gestellt. Und sie ist durchaus berechtigt.
Wir denken möglicherweise daran, unsere Hand auf die heiße Herdplatte zu legen oder sich auf einen Legostein zu knien. in diesen Fällen nimmt der Schmerz tatsächlich zu.
Der Schmerz, von dem ich hier schreibe, ist jedoch einer, der schon vorhanden ist. Irgendwo in uns, vielleicht verkapselt, vielleicht haben wir uns auch so sehr an ihn gewöhnt, dass wir ihn gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Er ist auf jeden Fall vorhanden und er hat Auswirkungen auf unsere Handlungen und unser Leben.
Insofern ist er vielleicht eher damit vergleichbar, dass wir uns eine Lebensmittelvergiftung zugezogen haben und uns der Magen ausgepumpt werden muss, um die Vergiftung zu heilen. Nur, dass wir nicht körperlich vergiftet sind, sondern seelisch. Aber raus aus das Gift allemal.
Der Körper weiß oft schon längst Bescheid, auch wenn der Kopf es noch nicht zulässt. Viele Klientinnen und Klienten beschreiben diffuse Symptome wie Druck auf der Brust, chronische Anspannung oder ein ständiges Unwohlsein.
Und wenn sie bereit sind, sich emotional wirklich zu öffnen, formt sich aus dem Nebel ein klares Bild. An dieser Stelle kann sich häufig der Schmerz lösen und nochmals gefühlt werden, bevor wir ihn verabschieden. Was bleibt, ist ein echter Kontakt zu uns selbst.
Das hier genannte Beispiel war tatsächlich ein Zufallstreffer. Mein Klient ist Vater und ein erfolgreicher, selbstständiger Grafiker. Wir saßen zusammen, und er berichtete von Konflikten mit seiner Frau.
Entsprechend war er ohnehin etwas emotionaler. Plötzlich waren Wut und Trauer gleichzeitig präsent. Er berichtete später, dass er die ganze Zeit hin und hergerissen war, zwischen Weinen und dem Impuls, irgendetwas kaputtzumachen.
Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen. (Sigmund Freud)
„Was ist denn passiert?“ fragte ich, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte.
„Ich war plötzlich neun Jahre alt und mein Lehrer hat mich gerade vor der ganzen Klasse blamiert. Alle haben gelacht und ich stand da, voller Scham, habe aber mitgelacht. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte machen sollen.“
„Wodurch wurde diese Erinnerung aktiviert?“, wollte ich wissen.
„Ich glaube, das waren Sie, Herr Göritz“, antwortete er und ergänzte auf meinen fragenden Blick: „Sie haben eben Ihre Brille geputzt und wieder aufgesetzt … das hat mich direkt an Herrn Schlonz erinnert.“
„Der Lehrer?“
„Ja, genau. Und dann war ich direkt in der Situation von damals. Irre … das habe ich noch nie erlebt.“
Natürlich war ich in dieser Situation nicht Schlonz und mein Klient war auch nicht neun, aber meine Art, die Brille zu putzen, hat etwas in ihm reaktiviert, das jetzt endlich das erste Mal wirklich Raum bekommen hat. Der Schmerz aus dieser Situation von vor über 30 Jahren.
Ein paar Wochen später berichtete mein Klient von einer Veränderung in den Streits mit seiner Frau: „Irgendwas hat sich verändert. Ich hab mich in den Streits mit meiner Frau nicht mehr so ohnmächtig gefühlt. Als hätte der Neunjährige tatsächlich Heilung erfahren.“
Das ist die Langzeitwirkung solcher Momente. Der Schmerz verschwindet nicht umgehend, aber er verliert nach und nach seine Macht, wenn er endlich
Das Ziel ist nicht, sich im Schmerz oder gar Selbstmitleid zu suhlen. Sondern den Schmerz und damit sich zu spüren, um ihn zu integrieren. Es geht darum, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Besonders mit den verletzlichen und oftmals auch verletzten Anteilen aus der Kindheit, die damals nicht den Raum hatten, sich zu zeigen.
In der Psychotherapie sprechen wir oft vom „inneren Kind“. Ein Bild, das hilft, alten Schmerz nicht mehr nur als störendes Symptom zu sehen, sondern als Botschaft: Schau hin. Ich bin noch da. Und ich habe das Recht, endlich gesehen zu werden.
Die Wunde ist der Ort, durch den das Licht in dich eindringt. (Rumi)
• Er verliert seine Bedrohlichkeit. Gefühle, die zugelassen werden, verlieren ihren Druck. Wer weint, explodiert nicht. Wer Wut spürt, muss sie nicht zwangsläufig ausagieren.
• Wir integrieren alte Erfahrungen. Es entsteht ein „Ich war da, ich habe das erlebt und ich habe überlebt.“ Das steigert unser Gefühl der Selbstwirksamkeit.
• Beziehungen werden ehrlicher. Wer den eigenen Schmerz kennt, muss ihn nicht mehr auf andere projizieren. Das verändert Beziehungen oft positiv.
• Die Lebensfreude kehrt zurück. Wer Schmerz betäubt, betäubt oft auch Freude. Wer ihn zulässt, macht sich wieder durchlässig für echte Lebendigkeit.
Hier ein paar Ansätze aus der therapeutischen Arbeit:
1. Langsam rantasten. Niemand muss sich sofort in seine tiefsten Abgründe werfen. Es reicht, erste Signale ernst zu nehmen: ein Kloß im Hals, eine Gänsehaut, ein Impuls zum Rückzug.
2. Den Körper im Auge behalten. Atemarbeit, Körpertherapie oder beispielsweise kreative Ausdrucksformen helfen, den Schmerz nicht nur im Kopf zu bearbeiten.
3. Nicht alleine bleiben. Ein sicherer Raum ist entscheidend. Das kann ein Therapieraum genauso sein, wie das Wohnzimmer des besten Freundes. Denn Schmerz braucht hilfreiche Begleiter, keine Gaffer.
4. Sich Zeit geben. Emotionaler Schmerz heilt nicht nach Plan. Es ist ein Prozess und kein terminierbares Projekt.
Du und ich – wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen. (Mahatma Gandhi)
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Mehr InformationenWeil unser Nervensystem gelernt hat, sich zu schützen – vor Überforderung, vor Kontrollverlust, vor Scham. Besonders in der Kindheit, wenn wir noch keine sicheren Räume für Gefühle hatten, entwickeln wir Vermeidungsstrategien. Diese Strategien helfen uns zu überleben – aber sie verhindern oft, dass wir später wirklich heilen. Schmerz zuzulassen, heißt: den Schutz ein Stück weit loslassen. Das ist herausfordernd, aber der einzige Weg zurück zu echter innerer Freiheit.
Typische Anzeichen sind starke emotionale Reaktionen in eigentlich „harmlosen“ Situationen, wiederkehrende Beziehungskonflikte, innere Leere, diffuse Angstzustände oder psychosomatische Symptome. Auch Sätze wie »Das war doch nicht so schlimm« oder „Andere hatten es viel schwerer“ können Hinweise auf eine innere Verdrängung sein. Der Schmerz ist oft nicht laut – aber er wirkt.
Zunächst kann es emotional intensiv werden – Tränen, Wut, Ohnmacht, Scham. Aber genau in diesem Fühlen liegt die Chance zur Integration. Gefühle, die bewusst erlebt werden dürfen, müssen nicht mehr unbewusst gesteuert werden. Viele Menschen berichten danach von mehr innerer Klarheit, mehr Selbstakzeptanz und einer deutlich entspannteren Beziehung zu sich selbst und anderen.
Nein, nicht zwangsläufig. Aber die Vergangenheit gräbt oft von selbst, wenn der heutige Schmerz Resonanz mit alten Erfahrungen hat. Es geht nicht um das endlose Wühlen im Gestern – sondern darum, zu erkennen, wo der Schmerz ursprünglich entstanden ist, damit er im Heute nicht mehr unbewusst wirkt. Manchmal reicht ein einziger bewusst durchfühlter Moment, um eine jahrelange innere Spannung zu lösen.