Angst als Waffe

Veröffentlicht am: 06.10.2025 von Jan Göritz

Angst als Schatten

Angst ist manchmal wie ein Schatten, der sich immer wieder versucht, unser Leben zu verdunkeln. Er wirkt immer größer als wir selbst, manchmal richtiggehend riesig. Und dieser Schatten wird auch, nach meiner Beobachtung aus der Praxis, immer häufiger bewusst zu uns geschickt. Denn Angst ist nicht nur ein Gefühl, „Angst als Waffe“ wird häufig als Machtmittel eingesetzt.

Politiker nutzen sie, um Zustimmung zu erzwingen, Arbeitgeber, um Kontrolle zu behalten, Partner, um Nähe zu erpressen, Medien, um Klicks zu generieren. Und manchmal nutzen wir sie sogar selbst: gegenüber unseren Kindern, unseren Partnern, und wir machen auch vor uns selbst nicht halt.

Wer immer Angst hat, lebt in ständiger Bedrängnis. (Seneca)

Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie bemerken, dass jemand Sie durch Angst in eine bestimmte Richtung manipulieren will? Dann können Sie erahnen, wie mächtig diese Waffe sein kann.

Was Angst eigentlich macht

Psychologisch gesehen ist Angst eine Überlebensreaktion. Sie warnt und schützt uns und bereitet uns auf Flucht oder Angriff vor. Ohne Angst gäbe es uns wahrscheinlich gar nicht mehr.

Angst ist für das Überleben unverzichtbar. (Hannah Arendt)

Doch in unserer modernen Welt geht es selten um Säbelzahntiger oder feindliche Stämme. Stattdessen werden die alten Mechanismen in neuen Kontexten ausgelöst:

Angst sorgt dafür, dass wir Entscheidungen ohne Mut treffen. Sie engt unseren Blick ein und macht uns manipulierbar. Genau hier wird es interessant, denn wir konstruieren unsere Wirklichkeit selbst. Was wir für „die Realität“ halten, ist oft nur eine Version davon, geprägt von dem, was uns unser Umfeld und die verschiedensten Medien erzählt haben.

Wer das verstanden hat, hat enorme Macht. Denn wer es schafft, unsere Wahrnehmung zu verzerren, indem er gezielt unsere Ängste anspielt, der kann auch unser Handeln steuern.

Angst ist also bei weitem nicht nur ein Gefühl. Angst ist eine der tragenden Säulen totalitärer Regime. Ob Stasi oder Gestapo: Das Ziel war eine verängstigte und damit kontrollierbare Bevölkerung.

Gesellschaftliche Krisen und kollektive Angst

Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie kollektive Ängste große Teile der Gesellschaft prägen können: Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die Klimakrise sind hier gute Beispiele.

Denn diese Krisen erzeugen eine existenzielle Verletzlichkeit und zeigen, dass Angst manchmal kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Thema ist.

Setze dich deiner tiefsten Angst aus. Danach hat die Angst keine Macht mehr über dich und die Angst vor Freiheit schrumpft und verschwindet. Du bist frei. (Jim Morrison)

Wenn Angst in diesem großen Maßstab wirkt, kann sie spalten, Menschen gegeneinander aufhetzen und Solidarität zerstören. Doch gleichzeitig liegt hier auch eine Chance: Natürlich kann Angst uns vereinzeln, das liegt auf der Hand. Aber wenn wir es schaffen, dieser Angst bewusst zu begegnen, also nicht bloß reflexhaft auf sie zu reagieren, dann haben wir die Wahl und können uns für Gemeinschaft und Solidarität und gegen die Angst entscheiden.

Praxisbeispiel

Eine Klientin, Anfang 40, sitzt in meinem Praxisraum. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her, die Hände fest ineinander verschränkt.

„Herr Göritz, ich habe das Gefühl, dass ich ständig kontrolliert werde. Mein Chef sagt mir zwar nie direkt, dass ich versagen könnte. Aber er schaut mich an, mit diesem Blick, und dann ist da diese Andeutung: ‚Wenn Sie das nicht hinkriegen, muss ich überlegen, ob Sie hier richtig sind.‘ Ich schlafe kaum noch. Ich mache Überstunden, bis ich fast umfalle. Und trotzdem reicht es nie.“
Mit Tränen in den Augen ergänzt sie, dass sie als alleinerziehende Mutter auf diesen Job angewiesen ist.

Mögen deine Entscheidungen deine Hoffnungen und nicht deine Ängste widerspiegeln. (Nelson Mandela)

Ich nicke, lehne mich ein Stück zurück. „Wenn ich Ihnen so zuhöre, klingt es so, als würde Ihr Chef mit Ihrer Angst spielen. Er benutzt sie, um Sie zu manipulieren.“

Sie sieht mich überrascht an. „Meinen Sie wirklich? Ich dachte natürlich immer, es liegt an mir. Dass ich einfach zu schwach bin vielleicht…“

„Nein“, sage ich, „das ist klassische Manipulation. Ihr Chef nutzt Ihre Abhängigkeit als alleinerziehende Mutter aus. Das ist kein schlechter Führungsstil, das ist schlicht psychische Gewalt. Ihre Angst wird gegen Sie eingesetzt und verstärkt sich dadurch selbst. Und das hat mit Ihrer Stärke oder Schwäche überhaupt nichts zu tun. Das ist der klassische Einsatz von Angst als Waffe.“

Sie atmet tief durch und für einen Moment entspannt sich ihr Körper. Nur die Hände bleiben noch fest ineinander verschränkt.

Umgang mit diffusem und konkretem Angstgefühl

Viele Klienten berichten mir von einem Gefühl, das sich nur schwer greifen lässt: diffuse Angst. Sie ist wie ein Nebel: bedrückend, aber ohne klare Richtung. Diese diffuse Angst ist besonders lähmend.

Neuere psychologische Forschung zeigt: Sobald wir Ängste konkret benennen können, verlieren sie an Bedrohung. Aus dem diffusen „Irgendetwas stimmt nicht“ wird zum Beispiel: „Ich habe Angst, meinen Job zu verlieren.“ – und das eröffnet Handlungsmöglichkeiten.

Konkret benannte Angst ist steuerbar, denn hier können wir Strategien entwickeln.

Woran Sie erkennen, dass Angst als Waffe eingesetzt wird

Angst ist nur so tief, wie der Verstand es zulässt. (Bernard Zitzer)

Nein, nicht immer, wenn Sie Angst spüren – selbst bei einer diffusen Angst – heißt es, dass Angst als Waffe gegen Sie eingesetzt wird.

Aber es gibt ein paar typische Muster, die immer wieder auftauchen und die entsprechend Ihr Augenmerk verdienen:

  • Andeutungen statt Klarheit: Drohungen sind oft vage. „Wenn Sie so weitermachen …“ – ohne Ende des Satzes.

  • Abhängigkeit schaffen: Angst wird geschürt, wenn jemand bewusst den Eindruck verstärkt, dass Sie ohne ihn oder sie nicht zurechtkämen.

  • Isolation: Wer Angst sät, sorgt oft gleichzeitig dafür, dass Sie sich mit Außenstehenden nicht darüber austauschen können.

  • Kontrollverlust: Angst geht fast immer mit dem Gefühl einher, die eigenen Handlungsoptionen zu verlieren.

 

Fragen Sie sich: Wer profitiert davon, dass ich Angst habe?

Werkzeuge gegen den Einsatz von Angst als Waffe

Natürlich gibt es keine Zauberformel. Aber es gibt Strategien, die helfen können, der Angst die Spitze zu nehmen.

1. Benennen, was passiert

Sagen Sie sich klar: „Das hier ist Angst. Und sie wird gerade benutzt, um mich zu steuern.“

Das klingt banal, ist aber ein erster Schritt. Denn solange die Angst namenlos bleibt, wirkt sie stärker.

2. Körperwahrnehmung trainieren

Angst sitzt oft im Körper: Herzrasen, Druck auf der Brust, kalte Hände. Wenn Sie lernen, diese Signale wahrzunehmen, können Sie schneller gegensteuern – zum Beispiel durch bewusstes Atmen oder eine kurze Unterbrechung.

3. Die Perspektive weiten

Angst verengt den Blick. Fragen Sie sich: „Was wäre die Alternative? Was, wenn ich Nein sage? Was, wenn ich das Risiko eingehe?“ – Oft entstehen dadurch neue Möglichkeiten.

Lachen ist Gift für die Angst. (George R.R. Martin)

4. Soziale Resonanz und Solidarität

Angst wirkt am stärksten in der Isolation. Teilen Sie Ihre Sorgen – sei es im Freundeskreis, in der Familie oder in einer Gruppe, die ähnliche Erfahrungen macht. Psychologische Studien zeigen: Solidarität stärkt die Selbstwirksamkeit, vermittelt Sicherheit und eröffnet neue Lösungswege.

Angst spaltet, aber Solidarität verbindet.

5. Mut im Kleinen üben und Resilienz stärken

Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mut bedeutet, trotz Angst zu handeln. Und Resilienz bedeutet, sich von Rückschlägen nicht dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen.

Beides entsteht nicht über Nacht, sondern durch Übung: kleine mutige Schritte, die innere Stärke wachsen lassen.

Stabil bei sich bleiben

Das bin ich, und ich bleibe mir treu!

Angst hat machmal eine solche Kraft, dass wir es nur schwer schaffen, bei uns zu bleiben.
„Bei sich bleiben“ bedeutet, dass wir weder uns noch unsere Werte und moralischen Überzeugungen über Bord werfen, nur, weil die Angst vor der Tür steht.

Denn sonst drehen sich die Gedanken schnell nur noch darum, was andere von uns erwarten und wie wir uns anpassen müssen, um bloß keinen Fehler zu machen. Genau hier liegt die eigentliche Herausforderung: bei sich zu bleiben. Nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen.

Wer die Angst überwindet, erlangt Freiheit. (Ralph Waldo Emerson)

„Bei sich bleiben“ heißt, die eigenen Werte nicht aus Angst über Bord zu werfen.
„Bei sich bleiben“ heißt, Entscheidungen nicht allein nach Druck von außen zu treffen.
„Bei sich bleiben“ heißt, innezuhalten, auch wenn der Rest rennt.

Es ist eine Art von Widerstand. Ein Widerstand gegen die Angst und damit auch ein Widerstand gegen alle, die unsere Angst für eigene Zwecke missbrauchen wollen.
Denn wenn Sie trotz äußeren Lärms oder Drohungen spüren können, wer Sie wirklich sind, dann verliert die Angst ein gutes Stück ihrer Macht.

Angst als Waffe, Klarheit als Schild

Wir alle haben dann und wann Angst. Und viele Menschen kennen Situationen, in denen Angst als Waffe eingesetzt wurde oder wird. Doch das bedeutet nicht, dass wir ihr ausgeliefert sind.

Angst wird stärker, wenn wir sie verdrängen und nicht sehen wollen. Umgekehrt wird sie schwächer, wenn wir sie hinschauen und sie benennen. Und das in einer möglichst solidarischen Umgebung.

Am Ende geht es darum, die eigenen Entscheidungen nicht aus Angst zu treffen, sondern aus Klarheit.

Mut ist Widerstand gegen die Angst, Sieg über die Angst, aber nicht Abwesenheit von Angst. (Mark Twain)

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FAQ

Wenn man Angst als Waffe nutzt,  sind vage Drohungen, Schuldzuweisungen und das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden typisch. Wenn Sie merken, dass Ihre Angst jemand anderem nützt, ist das ein Hinweis.

Nein. Und das ist auch gut so. Angst schützt uns. Ziel ist nicht, sie abzuschaffen, sondern sie bewusst wahrzunehmen und so zu verhindern, dass jemand unsere Angst als Waffe gegen uns einsetzt.

Kleine Schritte helfen: Atemübungen, bewusstes Benennen des Gefühls, Gespräche mit vertrauten Menschen. Manchmal auch professionelle Unterstützung. Besonders dann, wenn Sie merken, dass jemand versucht, Sie zu manipulieren, oder Sie das Gefühl haben, es würde Ihre Angst als Waffe missbraucht werden, ist es wichtig, sich anderen anzuvertrauen.
Das können Freunde oder Verwandte sein, manchmal ist aber auch professionelle Unterstützung angezeigt.

Solidarität spielt hier eine große Rolle: Soziale Unterstützung wirkt wie ein Puffer. Die Angst ist zwar noch vorhanden, trifft uns aber nicht mehr mit voller Wucht. Gemeinsam getragene Angst verliert ihre lähmende Wirkung und macht den Blick auf neue Lösungen frei. Wer einen starken Rückhalt hat, fühlt sich von einer Angst als Waffe deutlich weniger bedroht.


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