Gefühl und Erinnerung (Teil 2 – Eltern)

Teil 1 finden Sie hier.

Eltern damals und heute

Auch wenn meine Beobachtungen in der Praxis nicht repräsentativ sind, so fällt mir eines immer wieder auf:
Die Klienten, die einen früheren Konflikt mit ihren Eltern heute auf andere Personen projizieren, haben in der Gegenwart meistens einen stabilen bis guten Kontakt zu ihren Eltern.
Den haben sie sich nicht selten hart erarbeitet und sind entsprechend sehr glücklich darüber.
Manch einer hatte lange das Gefühl, er würde nie einen guten Kontakt zu seinen Eltern haben.

Möglicherweise handelt es sich bei den im ersten Teil beschriebenen Projektionen also auch um unbewusste Schutzmechanismen, die verhindern, dass der mühsam aufgebaute Kontakt zu den Eltern wieder zerstört wird.
Potentielle Partner und Chefs gibt es viele – die eigenen Eltern nur einmal.

Es ist also immens wichtig, sich bewusst zu machen, dass es nicht um die heutige Beziehung und das heutige Gefühl zu den eigenen Eltern geht.
Es geht um die Eltern der Kindheit, und es geht um das bisher verdrängte Gefühl aus der Kindheit.
Dieses Gefühl ist es, was uns immer wieder Stöcker in die Speichen steckt.

Es wirkt also im Unbewussten und wir fragen uns häufig, womit wir das verdient haben, uns schon wieder mit so einem Partner oder so einem Chef rumärgern zu müssen.

Wenn Sie keine Lust mehr darauf haben, von diesem Gefühl oder – wie Jung es beschreibt – dem Schicksal bestimmt zu werden, dann schauen Sie genau hin.
Lassen Sie sich nicht von dem blenden, was in der Gegenwart ist, sondern machen Sie sich immer wieder bewusst, dass es um ein Gefühl oder mehrere davon geht, die ihren Ursprung in der Kindheit haben.

Und machen Sie sich auch bewusst, dass Ihre Eltern höchstwahrscheinlich nicht im Sinn hatten, Sie zu verletzen. Die allermeisten Eltern lieben ihre Kinder und handeln so gut es ihnen möglich ist.

Gefühle der Kindheit verarbeiten

Für manch einen ist es schwer, das eigene Gefühl von Wut oder Trauer mit dem Umstand überein zu bekommen, dass die Eltern nicht aus Boshaftigkeit gehandelt haben.
In diesem Fall gäbe es einen eindeutigen Täter und Trauer und Wut hätten damit einen handfesten Adressaten.

Wir aber haben sozusagen „Täter aus Versehen“.
Darf man auf die wütend sein? Darf man derentwegen verletzt oder traurig sein?

Wir als Erwachsene sind in der Lage, die Situation retrospektiv richtig zu betrachten. Und wir als Erwachsene sind ja in der Regel auch nicht mehr wütend auf unsere oder traurig wegen unserer Eltern.
Dieses Gefühl hat sich in unserer Kindheit gebildet, wo wir die großen Zusammenhänge noch nicht erkennen konnten. Wir konnten nicht sehen, dass unsere Eltern eventuell überfordert waren. Und vor allen Dingen konnten wir nicht erkennen, dass wir damit rein gar nichts zu tun hatten.

Kinder beziehen alles auf sich und ganz besonders die verbal und nonverbal geäußerten „negativen“ Emotionen der Eltern.
Häufig können Sie mit den daraus resultierenden eigenen Gefühlen, also zumeist Wut oder Traurigkeit, nicht umgehen, geschweige denn, sie überhaupt benennen.
Im Sinne der eigenen Entwicklung werden diese Gefühle also erst einmal verdrängt und auf Wiedervorlage in 20 Jahren gesetzt.

Zeitreise

So müssen wir also als erwachsener Mensch eine Art Zeitreise machen und den Eltern unserer Kindheit, das sagen, was wir früher aus verschiedenen Gründen nicht aussprechen konnten oder durften.
Das ist nicht annähernd so kompliziert, wie es klingt und es erspart uns die häufig frustrierende Erfahrung, mit unseren Eltern von heute Dinge von damals zu klären.
Wie alle Menschen haben auch unsere Eltern den Hang, die Vergangenheit zu verklären. Aus dem Grund dürften Sie – so zeigt die Erfahrung – auf wenig Verständnis stoßen.

Ich arbeite häufig mit folgenden Möglichkeiten:

Eine Möglichkeit ist, einen Brief an ihre Eltern zu schreiben, den sie nicht abschicken. Das hat den Vorteil, dass sie wirklich zu 100 % ehrlich sein können. Da ihre Eltern den Brief nicht lesen, werden sie auch nicht enttäuscht oder verletzt sein.

Eine andere Möglichkeit ist das Gespräch mit dem imaginierten Vater oder der imaginierten Mutter, der oder die auf einem Stuhl sitzt.
Sie haben also keine Rechtfertigung, Unterbrechungen oder sonstige Störungen zu befürchten und können dem Gefühl von damals ungestört Raum geben.

Da niemand von vornherein sagen kann, auf welche Situationen sie stoßen, wenn sie sich auf eine solche „Zeitreise“ begeben, empfehle ich Ihnen:

  • hören Sie auf, wenn Sie das Gefühl haben, dass es für den Moment reicht
  • machen Sie diese oder andere Übungen nur, wenn Sie einen therapeutischen Ansprechpartner haben, der sie auffangen kann, sollte dies nötig sein.

Die Gefahr ist vorbei

So wie es in den beiden obigen Beispielen der Fall ist, lohnt es sich also immer, hellhörig zu werden, wenn wir bei uns Gedanken wahrnehmen, die ein „eigentlich ist alles gut, aber…“ beinhalten.
Das deutet darauf hin, dass mindestens ein kindlicher Aspekt angesprochen wird und punktuell für innere und äußere Probleme sorgt.

In diesem Fall können Sie schauen, welche Parallelen Sie zu Situationen aus ihrer Kindheit und Jugend entdecken.
Möglicherweise hilft Ihnen bereits dieses Bewusstsein dabei, die Situation zu verändern.
Ein Satz, den Sie ihrem kindlichen Anteil auf jeden Fall immer wieder an die Hand geben können, ist: „die Gefahr ist vorbei, jetzt bin ich da und passe auf uns auf!“

Auch, wenn dieser Satz die Probleme nicht löst, unterstützt er den Prozess der inneren Entspannung und schärft das Bewusstsein dafür, dass die aktuelle Situation nicht für das Gefühl verantwortlich ist. Sie weist uns lediglich darauf hin, dass wir noch ein Thema in uns tragen, das wir bearbeiten dürfen.

Gefühl und Erinnerung - Eltern - Jan Göritz - Heilpraktiker für
Foto: © Shanti / Adobe Stock

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