Tarnkappe Nettigkeit
Veröffentlicht am: 04.11.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 04.11.2025 von Jan Göritz

Gelb, gelb gelb sind alle meine Kleider. Gelb, gelb gelb ist alles was ich hab. Darum lieb ich alles, was so gelb ist, weil mein Schatz ein konturloser Ja-Sager ist.
Das heißt doch bei Gelb „Kranführer“. Wieso denn jetzt „konturloser Ja-Sager“?
Sie werden es gleich erfahren.
Das Bedürfnis, gemocht zu werden, ist ein ganz natürliches. Wir lernen es bereits als Kinder, dass wir eher gemacht werden, wenn wir brav und freundlich oder vielleicht sogar angepasst sind. Wut, Trauer und Anti-Haltung sind in der Regel nicht so gern gesehene Emotionen – zumindest nicht bei unseren Eltern.
Möglicherweise ist Nettigkeit also zumindest auch eine Strategie, die wir aus der Kindheit unhinterfragt ins Erwachsenenleben mitnehmen.
Allerdings verhindern wir damit echten Kontakt zu anderen Menschen, denn hier wäre Authentizität notwendig, um wirklich greifbar zu sein und Freundlichkeit ist in diesem Fall nicht mehr einer von vielen Ausdrücken, sondern Gewohnheit oder ein Automatismus.
Nettigkeit ist sozial erwünscht, „alles gut“ ein mittlerweile weitverbreitetes Mantra. Und man kann damit wunderbar tarnen, dass man unter anderem große Angst hat, nicht gemocht zu werden.
Sätze, die bei mir in der Praxis fallen, sind beispielsweise:
Wenn ich dann frage, was wäre, wenn die Person „nein“ sagen würde beziehungsweise nicht mehr so harmoniesüchtig wäre, erhalte ich meistens die Antwort: „Dann denken die anderen, ich wäre egoistisch.“
Und dieser Satz ist fatal, denn er eliminiert die eigenen Grenzen. Es ist nicht mehr wichtig, was ich möchte, sondern es ist wichtig, wie „die anderen“ über mich denken.
Und hier kommen wir zum Anfang des Artikels: „… weil mein Schatz ein konturloser Ja-Sager ist.“
Permanente Nettigkeit ist, als würden Sie ein Bild nur mit Gelb, einer freundlichen Farbe, malen. Es erinnert an Otto und die ostfriesische Kriegsflagge („Weißer Adler auf weißem Grund“): Es ist alles gelb. Vielleicht kann man stellenweise etwas erahnen, ein Haus vielleicht, einen Baum oder einen Menschen. Aber es ist schwierig. Und genauso schwierig ist es, einen Menschen wirklich zu erkennen, dessen Nettigkeit alles andere in den Schatten stellt.
Wie Paul Watzlawick feststellte, kann man nicht nicht kommunizieren. Auch Schweigen und Lächeln sind Kommunikation. Und wenn Nettigkeit zur Gewohnheit wird, kommuniziert man permanent, dass es einem gut gehe und man nichts brauche.
Sie kennen vielleicht das Bild vom traurigen Clown, das in Kunst, Literatur und Musik den Kontrast zwischen äußerem Lachen und innerem Schmerz darstellt. Und so kann Nettigkeit Nähe vortäuschen und in Wirklichkeit Distanz schaffen. Denn echte Nähe braucht Wahrhaftigkeit und durchaus auch mal Reibung.
Reibung erzeugt Wärme, Reiberei Hitze (Ernst Reinhardt)
Der Mut, uns und unsere Konturen zu zeigen, entsteht häufig dann, wenn wir begreifen, dass Konflikte, die respektvoll geführt werden, nichts zerstören, sondern vieles klären.
Bevor Sie reflexhaft „Klar, mach ich!“ sagen, halten Sie kurz inne. Atmen Sie ein, spüren Sie in sich hinein. Wollen Sie das wirklich? Oder versuchen Sie, jemandem zu gefallen? Fragen Sie sich nicht, wem und warum. Stellen Sie einfach nur fest, dass Sie etwas nicht möchten, und reagieren Sie adäquat darauf.
Nettigkeit verlernt man nicht über Nacht. Beginnen Sie klein: „Nein, danke, ich habe heute keine Zeit.“ oder „Ich muss drüber nachdenken.“ Das sind klare, aber gleichzeitig freundliche Grenzen, die Ihnen schnell zeigen werden, dass sich mit Ihrer Nettigkeit nicht auch Ihr Freundeskreis verabschiedet. Niemand ist mit einem Menschen nur deswegen befreundet, weil er nett ist.
Es ist in allem ein Riss, so kommt das Licht herein (Leonard Cohen)
Wut, Enttäuschung, Traurigkeit – das sind keine Störungen der Nettigkeit, sondern ganz normale Emotionen. Na klar: es sind Risse in der Fassade, aber so kommt nicht nur das Licht hinein, sondern auch Sie zeigen sich. Ein Schmetterling, der dauerhaft im Kokon lebt, mag hübsch sein, aber man sieht ihn nicht.
Sich selbst wahrzunehmen, ist die Grundlage für eine Beziehung nach innen, sich zu zeigen, ist die Grundlage für echte Beziehungen nach außen.
Fragen Sie sich: „Mag ich es eigentlich gerne, wenn Menschen mir mit vordergründiger Nettigkeit begegnen?“ Wenn die Antwort „nein“ lautet, ist es Zeit, den Kurs leicht zu korrigieren und sich selber mehr zu zeigen.
Ein bisschen Punk im Alltag tut meiner Meinung nach ja ganz gut. Dabei geht es weniger um Rebellion, sondern darum, sich zu erlauben, man selbst zu sein. Das beinhaltet für mich auch, niemandem gefallen zu wollen und die Dinge, die man möchte, selbst zu gestalten und eigene Wege zu entdecken. Nehmen Sie „Ihren Raum“ ein, sonst tut es ein anderer.
„Lass die Leute reden und hör ihnen nicht zu. Die meisten Leute haben ja nichts Besseres zu tun“ (Die Ärzte)
Natürlich geht das. Nettigkeit ist ja kein Feind. Sie wird erst dann kontraproduktiv, wenn wir sie unbewusst und pauschal einsetzen. Echtheit bedeutet ja auch nicht automatisch, unfreundlich zu sein, sondern authentisch zu sein. Das heißt: wahrnehmen, was ist, und es kommunizieren zu können. Wut muss nicht automatisch rausgeschrien werden, aber Sie dürfen sagen, wenn Ihnen etwas nicht gefällt oder Sie sauer macht.
Verletzlichkeit ist der Ort, an dem Innovation, Kreativität und Veränderung geboren werden. (Brené Brown)
Sie haben eine bewusste Wahlmöglichkeit, wie Sie reagieren und sind nicht mehr auf Nettigkeit 08/15 angewiesen.
Nettigkeit ist wie Gelb – warm, hell, freundlich. Aber kein Bild besteht nur aus einer Farbe. Wenn Sie alle anderen Töne weglassen, verlieren Sie Tiefe. Mut bedeutet also nicht, unfreundlich zu werden, sondern authentisch bunt.
Wir dürfen uns nicht durch die begrenzten Vorstellungen anderer Leute definieren lassen. (Virginia Satir)
Am Ende geht es darum, sichtbar zu sein. Mit Ihren Kanten, Ihrer Zärtlichkeit, Ihrer Wut und Ihrer Freude. Das ist kein einfacher Weg, sondern ein wahrhaftiger. Und Wahrhaftigkeit ist immer der Anfang von Freiheit.
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Nein, Nettigkeit ist kein Problem – im Gegenteil: Sie ist ein wichtiger sozialer Kitt. Freundlichkeit und Rücksicht sind Grundlagen jeder funktionierenden Gemeinschaft. Schwierig wird es erst, wenn Nettigkeit zum Dauerzustand wird – also wenn sie nicht mehr aus einer freien Entscheidung, sondern aus Angst oder Gewohnheit entsteht.
In meiner Praxis begegnen mir oft Menschen, die glauben, Nettigkeit sei gleichbedeutend mit Wertschätzung. Aber das stimmt nur bedingt. Wer immer freundlich ist, will oft unbewusst Konflikte vermeiden oder gemocht werden – koste es, was es wolle. Langfristig führt das dazu, dass man eigene Bedürfnisse verdrängt, um die Harmonie zu wahren.
Wenn Sie also spüren, dass Sie nach außen freundlich, aber innerlich erschöpft sind, ist das kein Zeichen von Schwäche – sondern ein Hinweis, dass Ihre Nettigkeit vielleicht mehr Schutz als Ausdruck ist.
Das klingt banal, ist aber gar nicht so leicht zu beantworten. Zu viel Nettigkeit zeigt sich selten direkt, sondern über Umwege: Müdigkeit, Gereiztheit, Frust, körperliche Anspannung. Viele Menschen sagen dann Sätze wie „Ich weiß gar nicht, warum ich so erschöpft bin“ – und übersehen, dass sie permanent über ihre eigenen Grenzen gehen.
Einige typische Anzeichen:
Sie sagen häufig „Ja“, obwohl Sie „Nein“ meinen.
Sie entschuldigen sich übermäßig oft.
Sie übernehmen Verantwortung für Stimmungen anderer.
Sie vermeiden Kritik oder klare Standpunkte.
Sie haben Angst, andere zu enttäuschen.
Wenn mehrere dieser Punkte auf Sie zutreffen, ist Ihre Nettigkeit wahrscheinlich nicht mehr frei, sondern ein Automatismus. Und wie jeder Automatismus braucht er Bewusstheit, um sich verändern zu können.
Ein erster Schritt kann sein, kleine innere „Stopps“ einzubauen – kurze Momente, in denen Sie prüfen: „Tue ich das, weil ich es will, oder weil ich Angst vor Ablehnung habe?“
Grenzen zu setzen heißt nicht, unfreundlich zu sein – es heißt, ehrlich zu sein. Das ist der entscheidende Unterschied. Viele Menschen verwechseln Klarheit mit Härte. Dabei kann man sehr wohl freundlich und bestimmt zugleich kommunizieren.
Ein hilfreicher Ansatz: Verwenden Sie Ich-Botschaften statt Vorwürfe. Zum Beispiel:
„Ich merke, dass ich heute keine Energie mehr habe, das zu übernehmen.“ statt „Immer bleibe ich auf allem sitzen!“
Klarheit in Verbindung mit Respekt wirkt oft stärker als jedes lange Erklärungsmanöver. Wenn Sie dabei ruhig bleiben und Ihren Standpunkt vertreten, merken Sie: Ihre Nettigkeit verliert nichts an Wärme, sie bekommt nur Kontur.
Das ist wahrscheinlich der schwierigste Teil auf dem Weg aus der Tarnkappe der Nettigkeit. Wenn Sie beginnen, ehrlicher und klarer zu werden, werden sich Ihre Beziehungen verändern. Nicht, weil Sie plötzlich „schwierig“ sind, sondern weil andere Menschen Ihre alte Rolle gewohnt sind.
Ein Beispiel: Wenn Sie jahrelang alles mitgemacht haben, ist Ihr plötzliches „Nein“ für andere irritierend. Das hat weniger mit Ihnen zu tun als mit Ihrer Gewohnheit. Manche werden überrascht, manche vielleicht sogar beleidigt reagieren. Das ist unangenehm – aber auch ein Prüfstein: Wer bleibt, wenn Sie echt sind?
Langfristig werden Sie merken: Beziehungen, die Echtheit aushalten, werden stabiler. Und diejenigen, die nur von Ihrer Nettigkeit leben, lösen sich oft von selbst. Das mag schmerzhaft sein, aber es schafft Raum für Menschen, die Ihre ganze Farbpalette mögen – nicht nur das freundliche Gelb.