Chronische Schuldgefühle loswerden (Teil 1): Ursachen und Auswirkungen
Veröffentlicht am: 20.01.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 20.01.2025 von Jan Göritz
„Es tut mir leid“ – ein Satz, mit dem sich Menschen verbal die Hand reichen können. Jeder von uns kennt Situationen, auf die dieser Satz folgte.
Es gibt jedoch auch Menschen, für die dieser Satz ein ständiger Begleiter ist: Menschen, die chronische Schuldgefühle haben, die ihnen das Leben schwer machen und sie daran hindern, glücklich zu sein.
Chronische Schuldgefühle können das eigene Leben zum Stillstand kommen lassen und unser Selbstbild verzerren.
Schuldempfinden ist ein Gefühl, wie alle anderen Gefühle auch. Es gehört genauso in unser Portfolio wie Freude oder Liebe.
Im Ursprung sind sie die Stimme unseres moralischen Kompasses und dienen dazu, unsere sozialen Beziehungen stabil zu halten.
Wenn sie jedoch chronisch werden, sind sie zumeist nur noch eine Belastung für uns und verhindern, dass wir freie und gute Entscheidungen treffen können.
Gewissensbisse entstehen normalerweise dann, wenn wir gegen moralische oder soziale Normen verstoßen haben.
Als Kind jedoch haben wir aber noch keinen ausgeprägten moralischen Kompass und sind auf das Feedback unserer Eltern angewiesen. Wenn diese jedoch selbst verunsicherte Persönlichkeiten sind, kann es sein, dass sie einen überkritischen Maßstab anlegen und dem Kind das Gefühl vermitteln, immer alles falsch zu machen, was mittelfristig dazu führen kann, dass das Kind chronische Schuldgefühle entwickelt.
Was ohne Beweis behauptet wurde, kann auch ohne Beweis abgelehnt werden. (Euklid)
Es gibt mindestens drei potenzielle Ursachen für chronische Schuldgefühle:
Beispiel Herr Beck:
„Herr Beck, gab es früher – in Kindheit und Jugend – schon oft Situationen, in denen Sie sich schuldig gefühlt haben? Zieht sich dieses Gefühl schon länger wie ein roter Faden durch Ihr Leben?“
Herr Beck blickt auf seine Hände, die sich fast gegenseitig festzuhalten scheinen. „Meine Mutter … sie war sehr streng. Wenn ich etwas falsch gemacht habe – oder sie fand, dass ich etwas falsch gemacht habe – hat sie mich ignoriert und mir Selbstzweifel eingeredet. Ich hatte immer das Gefühl, dass alles meine Schuld ist und ich dafür verantwortlich bin.“
„Das klingt so, als hätten Sie damals die Verantwortung für die Gefühle Ihrer Mutter übernommen … übernehmen müssen.“
Er nickt langsam. „Ja. Und das mache ich immer noch. Bei meinen Freunden, bei Kollegen – ich bin immer derjenige, der sich entschuldigt. Egal, ob ich wirklich etwas falsch gemacht habe oder nicht.“
„Das bedeutet, dass Sie das Trauma aus Ihrer Kindheit als Glaubenssatz verinnerlicht haben. Das ist ein häufiges Phänomen bei Menschen mit chronischen Schuldgefühlen. Wie lautet der Satz, Herr Beck? Ich bin immer schuld?“
Herr Beck überlegt und ergänzt dann: „‚Ich bin immer schuld daran, wenn es Menschen in meinem Umfeld schlecht geht.‘ Das ist der Satz und ich habe immer das Gefühl, ich müsse Wiedergutmachung leisten.“
Unser Gewissen ist in gewisser Weise unser innerer Richter. Er erinnert uns daran, was richtig ist und was falsch. Bei Menschen mit chronischen Schuldgefühlen jedoch wird dieser Richter zum Tyrannen: Er bietet keine Orientierung mehr, sondern wird zum Urheber permanenter Selbstkritik.
Beispiel Herr Beck:
„Herr Beck, wenn Sie das Gefühl haben, sich entschuldigen zu müssen – wie fühlt sich das an? Spüren Sie das körperlich?“
Herr Beck überlegt kurz. „Ja, ich bekomme einen Druck in der Brust. Mein Herz schlägt schneller und mir wird warm.“
„Und was passiert dann in Ihrem Kopf?“
„Ich denke: ‚Das war falsch. Du musst das sofort wiedergutmachen.‘ Und dann entschuldige ich mich – oft mehrmals.“
Die Unterdrückung existiert, weil wir sie akzeptieren. Die Freiheit beginnt mit der Ablehnung. (Luisa Capetillo)
„Das ist das überaktive Gewissen, von dem wir vorhin gesprochen haben. Es lässt Sie nicht in Ruhe, bis Sie sich entschuldigt haben. Das Gute ist: Wir können daran arbeiten, diesen inneren Richter zu besänftigen.“
Chronische Schuldgefühle können weitreichende Auswirkungen haben:
Beispiel Herr Beck:
„Neulich im Büro … Ich habe eine E-Mail mit einem kleinen Fehler abgeschickt. Mein Chef hat mich darauf hingewiesen, freundlich, wirklich nicht böse. Aber ich konnte danach kaum noch arbeiten. Ich habe mich mehrmals bei ihm entschuldigt, obwohl er mir gesagt hat, dass alles in Ordnung sei.“
„Das klingt, als hätten Sie das Gefühl gehabt, komplett versagt zu haben – wegen einer Kleinigkeit.“
„Ja. Es war, als hätte ich einen riesigen Fehler gemacht. Ich hatte so starke Gewissensbisse … das ging den ganzen Tag nicht weg.“
„Das zeigt mir, wie sehr Ihr Empfinden von Schuld Sie in Ihrem Alltag einschränkt. Das passiert leider oft, wenn Schuldgefühle quälend werden. Aber gemeinsam können wir daran arbeiten, diesen Kreislauf zu durchbrechen.“
Glücklicherweise sind betroffene Menschen nicht in ihren chronischen Gewissensbissen gefangen. Es gibt Methoden und Wege, diese zu bearbeiten.
Die Verhaltenstherapie setzt dort an, wo Verhaltensmuster erkennbar sind, die durch Schuldempfinden aufrechterhalten werden. Ziel ist es, neue Verhaltensweisen zu entwickeln und alte Denkmuster zu durchbrechen.
Beispiel für ein Therapieziel:
Beispiel Herr Beck:
„Herr Beck, Ihre Hausaufgabe für diese Woche lautet: Beobachten Sie bewusst, wann und warum Sie sich entschuldigen. Schreiben Sie die Situationen auf. Aber entschuldigen Sie sich nur, wenn es wirklich notwendig ist.“
In der nächsten Sitzung berichtet Herr Beck: „Es war unglaublich schwer. Ich habe bemerkt, dass ich mich ständig entschuldigen wollte – selbst, wenn jemand anderes einen Fehler gemacht hat.“
Das Schuldgefühl hindert uns daran, die Dinge klar zu sehen. (Doris May Lessing)
„Das ist ein wichtiger Schritt, Herr Beck. Sie haben begonnen, sich Ihrer Muster bewusst zu werden. Das ist die Grundlage für Veränderung.“
Oft sind Selbstanklagen an bestimmte Gedanken gekoppelt, die irrational oder komplett übertrieben sind. In der kognitiven Umstrukturierung werden solche Denkmuster bewusst gemacht und durch realistischere Gedanken ersetzt.
Typische irrationale Gedanken bei Schuldgefühlen:
* „Ich bin schuld, wenn andere unglücklich sind.“
* „Ich muss alles richtig machen, sonst bin ich wertlos.“
Neue, realistischere Gedanken könnten lauten:
* „Ich kann nicht für die Gefühle anderer verantwortlich sein.“
* „Fehler sind menschlich und gehören zum Leben dazu.“
Schuldgefühle sind nicht nur kognitive Konstrukte, sondern auch tiefgreifende emotionale Erfahrungen. In der Therapie wird oft gezielt an der Verarbeitung dieser Emotionen gearbeitet, beispielsweise durch:
* Imaginationsübungen: Sich die Situation vorstellen, in der die Schuld entstanden ist, und bewusst neu erleben. „Wie würde der erwachsene Herr Beck in dieser Situation reagieren?“
* Gefühlsarbeit: Das Ausdrücken und Annehmen von Emotionen, anstatt sie weiterhin zu verdrängen.
Beispiel Herr Beck:
„Herr Beck, ich möchte heute mit Ihnen eine Imaginationsübung machen“, erkläre ich. „Dazu reisen wir in Gedanken zurück in eine Situation, die Ihre Schuldgefühle geprägt hat. Sie werden diese Szene vor Ihrem inneren Auge sehen – aber dieses Mal werden Sie als erwachsene Version von sich selbst mit dabei sein. Sind Sie bereit?“
Herr Beck atmet tief ein und nickt. „Ich bin bereit.“
„Schließen Sie die Augen, Herr Beck. Atmen Sie ruhig und gleichmäßig und stellen Sie sich vor, Sie sind wieder etwa zehn Jahre alt. Wo sind Sie gerade?“
Herr Beck überlegt kurz. „Ich bin im Wohnzimmer. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa. Ich stehe vor ihr und halte mein Matheheft in der Hand.“
„Gut. Was passiert in dieser Situation?“
„Ich habe eine schlechte Note in Mathe bekommen. Eine Drei. Und sie ist wütend. Sie sagt, dass ich sie enttäuscht habe und dass ich mich mehr anstrengen muss. Sie weint und ruft immer wieder: ‚Wie kannst du mir das antun, Jonas?‘ Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.“
Schuld ist wie ein Sack Ziegelsteine: Du musst sie nur abladen. (Al Pacino)
Ich lasse ihn kurz in der Szene verweilen. Die Spannung ist mit Händen zu greifen. Herr Beck atmet flacher und schneller und seine Hände kneten sich gegenseitig
„Herr Beck, jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie als Erwachsener plötzlich in diesem Wohnzimmer stehen. Sie sehen den zehnjährigen Jonas. Wie geht es Ihnen mit dem, was Sie da sehen und was tun Sie?“
Herr Beck atmet tief ein und spricht leise: „Es ist wahnsinnig schwer zu ertragen, wie sehr ich unter falschen Anschuldigungen gelitten habe. Ich habe überhaupt nichts Falsches getan, war ein ganz normales Kind. Und ich frage mich, ob meine Mutter vielleicht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatte. Da sie mittlerweile tot ist, werde ich das nicht mehr erfahren, aber in Bezug auf meine psychische Gesundheit ist ja eindeutig etwas schiefgelaufen.“
Ich unterbreche Herrn Beck, denn je stärker er in das Schulderleben des kleinen Jonas eintaucht und erkennt, dass solche Situationen für ihn früher völlig normal waren, desto weniger ist er in der Lage, diese Übung zu machen. Denn hier geht es in erster Linie ums Neugestalten.
„Und was tun Sie in der Situation, Herr Beck?“
„Ich gehe zu Jonas hin. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter.“
„Sehr gut. Was sagen Sie zu ihm?“
Herr Beck beginnt zu sprechen, erst zögerlich, dann sicherer: „Jonas, du hast nichts falsch gemacht. Eine Drei ist keine Katastrophe, und es ist völlig in Ordnung, dass dir Mathe manchmal schwerfällt. Du musst nicht perfekt sein, um gut genug zu sein … um liebenswert zu sein.“
Ich leite ihn weiter: „Was sagen Sie der Mutter?“
Er schluckt hörbar, dann setzt er sich aufrecht hin und sagt: „Ich schaue sie an und sage: ‚Hör auf! Hör auf, ihn so zu behandeln. Es ist nicht fair, dass du deine Probleme auf ihn ablädst. Jonas hat dein Glück nicht in der Hand. Das ist nicht seine Verantwortung. Und du kannst ihn nicht dafür bestrafen, dass dein Leben schiefgelaufen ist.‘“
Seine Stimme klingt entschlossen, und es scheint, als ob er tatsächlich in diesem Moment präsent ist.
• Gesundes Gewissen: Erkennt Fehler und gibt Impulse, Verantwortung zu übernehmen und daraus zu lernen.
• Überaktives Gewissen: Überinterpretiert Fehler, verurteilt selbst kleinste Unachtsamkeiten und erzeugt ein permanentes Gefühl der Unzulänglichkeit.
1. Kognitive Umstrukturierung: Irrationale Gedanken wie „Ich bin schuld, wenn andere unglücklich sind“ können durch realistischere Überzeugungen ersetzt werden, z. B. „Ich bin nicht für die Gefühle anderer verantwortlich.“
2. Imaginationsübungen: Sie können sich in belastende Situationen aus Ihrer Vergangenheit zurückversetzen und diese bewusst neu erleben. Stellen Sie sich vor, wie Sie als erwachsene Person Ihrem jüngeren Ich zur Seite stehen.
3. Therapie: Verhaltenstherapie oder andere Ansätze können dabei helfen, die Muster zu erkennen und zu durchbrechen.