Grenzen setzen und achten ist wie Deiche bauen: Es schützt uns

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Grenzen und Deiche - Jan Göritz - Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologischer Berater, Psychotherapeut (HeilprG) in Hamburg

Deiche bauen – Grenzen setzen

Als Hamburger sind einem die Jahreszahlen 1962 und 1976 wahrscheinlich bekannt: im Februar 1962 und im Januar 1976 kam es zu den beiden schwersten Sturmfluten, denen Hamburg im vergangenen Jahrhundert ausgesetzt war. Und obwohl der Pegel 1976 deutlich höher war als 1962, waren die Zerstörungen 1962 deutlich stärker und die Opferzahlen deutlich höher. Der Grund: gebrochene Deiche.

Und genau wie Deiche uns vor Überflutung durch Wasser schützen, schützen unsere Abgrenzungen uns vor Überflutung durch Einflüsse, Stimmungen, Meinungen und anderem von Außen. 

Erfahrungsgemäß müssen in jedem System Abgrenzungen stattfinden – die Frage ist nur: wer macht es – und wo? Stellen Sie sich vor, Ihre Schwiegereltern wären übergriffig und Ihr Partner wäre dieses Verhalten gewohnt und würde entsprechend nichts unternehmen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich langsam aber sicher eine Grenze zwischen Ihnen und Ihrem Partner ausbildet. Denn Sie haben keine Lust auf übergriffiges Verhalten.

Was bedeutet es, Grenzen zu setzen und zu achten?

Vielleicht haben Sie es auch schon mal erlebt, dass Ihnen die physische Nähe eines bestimmten Menschen unangenehm ist. Ohne näher auf mögliche Ursachen einzugehen, können wir feststellen: Hier hat sich jemand durch eine Ihrer Schranken gemogelt. Vielleicht sogar durch eine, die Ihnen bislang nicht bewusst war.

Denn um Grenzlinien in unserem Sinne ziehen zu können, müssen wir erst einmal wissen, wo. Mag der eine Partys mit lauter Musik und Gedränge, liebt es der andere eher einsam in der Ruhe der Natur. Und wo verorte ich jetzt mich?

Allgemein kann man sagen, dass eigene Stopps zu setzen und diese auch selbst zu achten voraussetzt, dass man sich über seinen Raum im Klaren ist – und zwar im emotionalen, mentalen und auch physischen Sinne. Eine Schwierigkeit dabei könnte sein, dass der Raum kein Raum mit festen Wänden ist, wie der, in dem ich sitze, während ich dies schreibe. Nein, er ist in stetiger Veränderung: Sind mir heute Menschen um mich herum zu viel, kann es morgen das absolut Tollste sein, auf einem ausverkauften Konzert zu stehen.

Wichtig ist also, darauf zu achten, wie Sie sich in einer bestimmten Situation fühlen. Denn Ihr Gefühl – geht es mir in dieser Situation gut oder nicht – ist Ihr persönlicher Seismograph dafür, ob Sie sich gerade am richtigen Ort beziehungsweise in der richtigen Gesellschaft befinden oder nicht.

Grenzen zu setzen und zu wahren bedeutet dabei aber nicht, immer nur „Nein“ zu sagen oder sich abzuschotten. Es ist eher ein Tanz zwischen sich selbst und der Umwelt: Wo lasse ich jemanden näher an mich heran? Wo brauche ich mehr Abstand, um mich wohlzufühlen? Denn eine Grenze, die heute für Sie passt, könnte morgen schon anders aussehen. Es ist völlig normal, dass Sie nicht immer die gleichen Bedürfnisse haben. Wichtig ist, dass Sie bereit sind, Ihre Leitplanken immer wieder neu zu erforschen und anzuerkennen.

Manchmal geht es dabei auch darum, alte Gewohnheiten zu erkennen und zu verändern. Vielleicht haben Sie sich angewöhnt, immer verfügbar zu sein – sei es für die Familie, den Job oder Freunde. Es fällt Betroffenen oft schwer, diesen „Stand-by-Modus“ zu verlassen und tatsächlich mal „Nein“ zu sagen, ganz zu schweigen davon, sich dann nicht schuldig zu fühlen. Doch genau hier setzt die Selbstfürsorge ein: Denn nur wenn Sie sich die Zeit und den Raum für sich selbst nehmen und Ihre Grenzen erkennen und respektieren, können Sie langfristig auch für andere da sein.

Und manchmal kann ein „Nein“ auch ein „Ja“ sein – ein „Ja“ zu sich selbst. Ein „Ja“ zu den eigenen Bedürfnissen, zur eigenen Ruhe, zum eigenen Wohlbefinden. „Stopp“ zu sagen bedeutet also nicht nur ein „Nein“ zu den äußeren Anforderungen zu sagen, sondern auch „Ja“ zu sich selbst. So wie ein Deich ein „Ja“ zu beispielsweise Hamburg ist.

Denn es geht darum, Verantwortung für das eigene Wohlergehen zu übernehmen. So wie wir uns manchmal so in eine Aufgabe oder Musik vertiefen können, dass wir komplett im Hier und Jetzt sind, können wir auch in unserer Mitte bleiben, wenn wir unsere Grenzen bewusst oder unbewusst wahrnehmen und schützen.

Definition von persönlichen Grenzen

Mit unseren persönlichen Abgrenzungen schützen wir uns vor Überforderung jedweder Art. Unser individuelles Gefühl von „es wird mir zu viel“ bestimmt den Punkt, an dem wir unser „Schutzschild“ aktivieren. Das kann mal so aussehen, dass wir uns kurz auf die Toilette zurückziehen, um uns neu zu sortieren, mal so, dass wir eine Situation komplett verlassen – und das manchmal auch dauerhaft.

Wenn ein Bekannter beispielsweise immer Witze auf Ihre Kosten macht, werden Sie es sicherlich irgendwann vermeiden, ihn sehen zu müssen. Selbstliebe ist ein wichtiger Antrieb, um seine Grenzen klar zu kommunizieren.

Persönliche Grenzen zu setzen bedeutet nicht, dass wir massive und unverrückbare Mauern bauen,- nein, im Gegenteil: Wer seine eigene Mitte kennt, kann schnell und je nach Situation, erfassen, wo er momentan lieber „nein“ sagen sollte. Was heute für uns passt, muss morgen schon nicht mehr stimmen – und umgekehrt.

Warum sind Grenzen wichtig?

Grenzen zu ziehen ist notwendig, um uns selbst treu zu bleiben und gleichzeitig eine gute Beziehung zu uns zu behalten, sowie zu anderen einen gesunden Kontakt haben zu können. Wenn wir nicht gesunde Grenzen setzen, laufen wir Gefahr, uns selbst zu vernachlässigen und das eigene Wohl hintanzustellen.

Wir helfen hier beim Umzug, kaufen dort für die kranke Mutter ein, leihen einem liebeskummergeplagten Freund unser Ohr und natürlich lernen wir mit unseren Kindern für die anstehenden Klassenarbeiten. Wenn wir hier überhaupt von Grenzen sprechen können, dann sind es bestenfalls sehr schwache Grenzen.

Natürlich ist es ein schmaler Grat zwischen Angst vor Ablehnung beziehungsweise der Unfähigkeit, „nein“ zu sagen und Hilfsbereitschaft,- und wie oben schon beschrieben, ist das Ziel nicht, sich komplett abzuschotten. Vielmehr geht es darum, die eigene Gesundheit zu schützen. Denn diese gerät bei permanenter Überforderung durch Grenzüberschreitungen schnell in Mitleidenschaft.

Grenzen zu setzen hilft uns also dabei, unnötigen Stress zu vermeiden und darauf zu achten, dass wir unsere Energie nicht in Situationen verschwenden, die uns eher schwächen als stärken. Zudem haben Menschen, die ihre Grenzen richtig setzen und im richtigen Moment „nein“ sagen können, zumeist eine bessere Resilienz und mehr Selbstbewusstsein.

Wie erkennt man seine eigenen Grenzen?

Stellen Sie sich vor, Sie würden mit geschlossenen Augen durch Ihr Haus oder Ihre Wohnung gehen – woran würden Sie erkennen, dass Sie an eine Grenze stoßen? Richtig: vermutlich durch den Schmerz, den Sie erfahren werden.

Die geschlossenen Augen stehen hier für die eigene Unbewusstheit, mit der wir durchs Leben gehen, bevor wir beginnen, unsere Erfahrungen und unseren Schmerz zu reflektieren und erkennen, wo andere Menschen unsere Grenzen ständig überschreiten.

Häufig sind Unwohlsein, Stress oder Ärger Anzeichen dafür, dass wir an einer Grenze sind oder sie sogar schon überschritten wurde. Hier heißt es dann, ehrlich zu sich selbst zu sein und zu reagieren, anstatt immer durchzuhalten, wenn es sich falsch anfühlt.

Viele Menschen haben Angst davor, anderen vor den Kopf zu stoßen: „Das kann ich meinen Eltern nicht antun“ ist ein häufiger Einwand – natürlich können Sie „meine Eltern“ gegen alle anderen Menschen aus Ihrem Umfeld austauschen.

Ich kann Sie nur ermuntern: Setzen Sie Ihre Grenzen trotzdem. Gerade, wenn man sich bislang beim Thema Abgrenzung nicht unbedingt hervorgetan hat, sorgt jede neue Grenzziehung erst einmal für Irritation und damit für Ablehnung.

Doch nach und nach werden die meisten Menschen aus Ihrem Umfeld auf Ihre Grenzen achten. Und wer auf Dauer Ihre Grenzen nicht respektieren kann oder möchte, hat ja vielleicht auch keinen Platz mehr in Ihrem Leben.

Wie vergleicht man Grenzen mit Deichen?

Ich habe in der Einleitung schon auf die Parallelen zwischen gebauten Deichen und gesetzten Grenzen hingewiesen. Beide schützen uns – die Deiche vor Überflutung und unsere Grenzen davor, in den Erwartungen und Anforderungen anderer zu ertrinken.

Grenzen wie Deiche bieten also nicht nur Schutz, sondern schaffen uns auch einen sicheren Raum. Deiche ermöglichen uns den Raum, uns trockenen Fußes durch die Stadt zu bewegen und Grenzen bewahren uns vor Stress und Überforderung.

Die Schutzfunktion von Deichen und Grenzen

Deiche sind dazu da, uns vor extremen Naturgewalten zu schützen – sie verhindern, dass Wasser unkontrolliert in unser Leben einbricht. Genauso bieten persönliche Grenzen eine Barriere gegen das Eindringen ungewollter Einflüsse, die uns emotional aus dem Gleichgewicht bringen könnten.

Unsere persönlichen Grenzen bestimmen, wie viel Nähe, Verantwortung oder Arbeit wir zulassen und können so mit Achtsamkeit die Höhe unseres Stress-Pegels beeinflussen.

Deiche und Grenz-Deiche sorgen für Stabilität und Sicherheit, indem sie das Außen vom Innen trennen und uns damit ein Gefühl der Kontrolle über unser eigenes Leben geben.

Was passiert, wenn Deiche brechen oder Grenzen überschritten werden?

Wenn Deiche brechen, kommt es zur plötzlichen Katastrophe: Das Wasser überflutet alles, Häuser und Autos werden zerstört, Menschen stehen vor dem Nichts.

Wenn Stopp-Punkte überschritten werden, folgt die Katastrophe nicht auf dem Fuß,- diese Katastrophe ist eher vergleichbar damit, was passiert, wenn man das Wasser, in dem ein Frosch sitzt, langsam erhitzt. Eine lange Zeit scheint alles okay zu sein, aber scheinbar plötzlich stirbt der Frosch.

Genau so, wie der Frosch nicht plötzlich stirbt, sind wir auch nicht plötzlich total überfordert oder plötzlich im Burn-out. Beides hat eine Vorgeschichte, nur erkennen wir die Vorgeschichte zu unserer Situation immer erst im Nachhinein.

Ein gebrochener Deich und eine überschrittene Grenze haben also eins gemeinsam: sie zerstören das, was eigentlich geschützt werden sollte.

Wie können wir unsere „Grenzdeiche“ stärken?

Deiche werden regelmäßig überprüft und gewartet, damit Schäden frühzeitig erkannt und ausgebessert werden können. Und auch unsere Grenzen brauchen regelmäßig Aufmerksamkeit und Pflege. Wenn Sie beispielsweise regelmäßig in sich hineinhorchen und reflektieren, welche Menschen, Situationen oder auch Verhaltensweisen Ihnen und Ihrem Selbstwertgefühl guttun und welche nicht, entwickeln Sie mit der Zeit ein feines Gespür dafür, wo Ihre Grenzen liegen und sorgen mit Ihrem aus diesem Wissen resultierenden Verhalten automatisch dafür, dass Ihre „Grenzdeiche“ gestärkt werden. 

Lernen, „Nein“ zu sagen, wenn jemand sich anmaßt, die eigenen Grenzen zu überschreiten, ist eine wichtige Möglichkeit, den eigenen Deich zu verstärken.

Ich erinnere mich an einen Klienten, der seine eigenen Limits gar nicht kannte – ausgenommen Extremsituationen. Er war der klassische „Ja-Sager“ im Freundeskreis und wenn der Chef nach Freiwilligen für Überstunden fragte, war er der Erste, der sich meldete.

Er schrieb mir, weil er merkte, dass seine Leistungsfähigkeit abnahm, und er war irritiert, weil er es nicht gewohnt war, mit seinen Grenzen konfrontiert zu werden. Außerdem konnte er seine gewohnte Freundlichkeit nicht mehr aufrecht halten und es gab gelegentlich Ärger im Freundeskreis und in der Firma, weil er aus Sicht der anderen häufig überreagierte: Seine persönlichen „Grenzdeiche“ hatten Risse bekommen.

Wir arbeiteten daran, wie er seinen Wohlfühlraum besser wahrnehmen und kommunizieren kann – also das eigentliche „Grenzen setzen lernen“.
Denn Arbeit an den eigenen Grenzen bedeutet nicht nur, sie zu kennen, sondern auch, den eigenen Wert anzuerkennen und für sich selbst einzustehen und somit dafür zu sorgen, dass die eigene Energie nie komplett erschöpft ist.

Aber was heißt das konkret: Grenzen setzen lernen?

Lesen Sie Teil 2 hier: Erfolgreich Grenzen setzen lernen

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