Zugehörigkeit und Wachstum (Teil 2 von Anpassung)
Veröffentlicht am: 27.10.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 27.10.2025 von Jan Göritz
Zugehörigkeit ist für uns Menschen ein wichtiges Thema, geradezu ein Grundbedürfnis. „Mein Mann ist mit seinen besten Freunden seit der Grudschule befreundet. Manchmal bin ich schon neidisch darauf“ erzählte eine ehemalige Klientin, die ihrerseits eher lose Freunde hat, aber keine feste Freundesgruppe.
„Auf der anderen Seite merke ich auch immer wieder, dass mir das zu eng wäre, zu unflexibel. Ich glaube, dass mir schon nach kurzer Zeit die Luft zum Atmen fehlen würde“, sagte sie ein paar Sätze weiter
Einsamkeit ist eigentlich der Ort, an dem man sich mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zum Menschen verbinden kann. (Fritz Perls)
Und noch etwas später: „Bei denen läuft das irgendwie immer gleich. Immer die gleichen Sprüche, immer die gleichen Witze. Ich spiele im Kopf manchmal Bullshit-Bingo, wenn ich mal mit dabei bin. Es läuft mit den Vieren fast immer wie nach einem Drehbuch. Nee, sowas möchte ich doch nicht. Ich mag lebendige Freundschaften. Und da darf durchaus mal Überraschungen geben.“
So, wie es dieser ehemaligen Klientin ging, geht es einigen Menschen. Das richtige Maß zu finden zwischen Nähe und Autonomie, zwischen Beständigkeit und Wachstum, das ist mitunter eine schwierige Angelegenheit.
Wann wird aus Treue und Loyalität Selbstverleugnung?
Zugehörigkeit: Halt oder Fessel?
Zugehörigkeit verspricht uns Halt und Sicherheit. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet zwei ganz wichtige Punkte.
Doch während es vor etlichen Jahrtausenden der sichere Tod gewesen wäre, nicht mehr Teil einer Gruppe zu sein, ist die Gruppenzugehörigkeit heute nicht mehr überlebenswichtig. Trotzdem halten wir an gewissen Zugehörigkeiten selbst dann noch fest, wenn wir merken, dass sie unsere eigene Entwicklung blockieren:
Es gibt Gruppen, Freundeskreise oder Familien, in denen alles scheinbar stabil ist,- aber nur bis jemand beginnt, sich zu verändern. Dann wird die bisherige Harmonie plötzlich fragil und der Satz „Du hast dich verändert“ klingt dann nicht nach einem Kompliment.
Probieren Sie es selbst einmal aus und verzichten Sie beispielsweise auf Alkohol. Wie reagiert Ihr Umfeld?
Der häufigste Grund, warum Menschen im Leben scheitern, ist, weil sie auf ihre Freunde, Familie und Nachbarn hören. (Napoleon Hill)
Ein Klient formulierte es einmal so:
„Ich merke, dass ich bei meinen alten Freunden immer in dieselbe Rolle rutsche. Früher war ich da der Clown und das war auch für die Zeit okay. Aber es ist, als wenn die andern sich weigern würden, anzuerkennen, dass ich mittlerweile 20 Jahre älter bin. Immer wieder kommt direkt oder indirekt die Aufforderung, ‚doch mal einen rauszuhauen‘. Als ob sie auf Krampf wieder 16 sein wollten. Unterm Strich habe ich eigentlich überhaupt keine Lust mehr auf solche Treffen.“
Das ist die Tragik manch langjähriger Beziehungen: Man bleibt in alten Rollen stecken, weil alle daran gewöhnt sind und niemand den Mut hat, das infragezustellen.
Wenn man anerkennen würde, dass die Sympathie aus der Konstellation der Sechzehnjährigen herrührt, dann könnte man vielleicht auch leichter, anerkennen, dass alle Beteiligten sich stetig verändern. Das beinhaltet dann jedoch auch, sich immer mit einer Offenheit zu begegnen, die Veränderungen auch wahrnehmen kann.
Ich wage die Behauptung, dass ein „Wir haben uns auseinandergelebt“ häufig das Resultat vom Festhalten an den gewohnten Rollen ist.
Nähe – ein Begriff, der bei vielen Menschen positive Gefühle auslöst. Jedenfalls fällt er relativ häufig, wenn ich meine Gegenüber nach ihren Wünschen frage.
Man ist sich ja auch nah, wenn man sich gegenseitig auf den Füßen steht.
Dann allerdings wird aus „nah“ ganz schnell „starr“. Denn wir Menschen haben das Bedürfnis, schöne Momente oder Phasen zu konservieren. Wir fotografieren und filmen, um uns über diese Anker immer wieder mit dem „schönen Gefühl von damals“ zu verbinden.
„Konservieren“, also „bewahren“, ist aber so ziemlich das Gegenteil von Weiterentwicklung und Wachstum. Wenn sich also jemand aufmacht und sich verändert, dann sorgt das im Umfeld mit einer großen Wahrscheinlichkeit für Irritationen. Denn sofort hinterfragen wir uns selbst. „Müsste ich das (was auch immer) auch tun?“ Ich hörte sogar davon, dass Menschen es persönlich nehmen, wenn ein Freund Vegetarier wird.
Allein kann der Mensch nicht wohl bestehen, daher schlägt er sich gern zu einer Partei, weil er da, wenn auch nicht Ruhe, doch Beruhigung und Sicherheit findet. (Johann Wolfgang von Goethe)
Eigentlich, so mein Eindruck, sind wir genervt davon, dass uns jemand in unserem schönen und ruhigen Leben stört, indem er neue Impulse einbringt. Vielleicht haben wir auch Angst, dass der andere sich entfernt. Wobei auch das letztlich Auswirkungen auf unser schönes und ruhiges Leben hat.
Doch genau das ist das, was Entwicklung bedeutet: Veränderung. Ein konservatives Bewahrenwollen bedeutet hingegen häufig Stillstand und ist damit das Gegenteil von Lebendigkeit.
Wenn Menschen darüber betrübt sind, keinen „festen Freundeskreis“ zu haben, sondern aus dieser Ecke zwei, drei Leute haben und aus jenen drei Ecken auch jeweils. „Die würden sich untereinander gar nicht verstehen, aber ich mag die halt.“ ist ein Satz, der dann häufig fällt.
Ich benutze dann gerne das Bild vom „sozialen Dietrich“, also quasi einem sozialen Universalschlüssel.
Wenn wir beim Bild des Schlüssels bleiben, dann haben wir nicht nur einen Raum, den wir damit öffnen können, wir sind flexibel und können viele Räume erkunden.
Wir müssen uns nicht festlegen. Und das bringt zugleich Freiheit und möglicherweise auch Unsicherheit mit sich. Denn wer viele Türen öffnen kann, hat zwar mehr Möglichkeiten, „seinen Platz“ zu finden ist jedoch deutlich schwerer. Zumal dieser Platz morgen ein anderer sein kann, als er gestern war.
Manchmal beneidet man diejenigen, die „ihre feste Gruppe“, also eine Zugehörigkeit haben – der Raum in dem sie sich sicher fühlen. Aber wer immer im selben Raum bleibt, bekommt andererseits auch keine neuen Eindrücke.
Eine Gemeinschaft ist wie ein Schiff: Jeder sollte bereit sein, das Ruder zu übernehemen. (Henrik Ibsen)
Der soziale Dietrich hingegen erlebt Vielfalt, unterschiedliche Perspektiven, neue Geschichten. Er lernt, dass Zugehörigkeit nichts mit Besitz zu tun hat, sondern mit Verbindung. Und er lernt viel über sich. Sein Selbstbewusstsein erfährt mit jeder Erfahrung Wachstum.
Natürlich kann das manchmal einsam wirken, gerade in einer Gesellschaft, in der mehr Wert auf Sicherheit als auf Freiheit gelegt wird.
Aber vielleicht ist es genau andersherum: Wer sich frei bewegt, ohne sich anzupassen, ist nicht bindungsscheu, sondern lebendig und beziehungsfähig auf vielen Ebenen.
Sätze, die mit „Ich bin…“ beginnen, bergen eine Gefahr in sich: Sie wirken einschränkend und manchmal sogar ausgrenzend. „Ich bin…“ beinhaltet zwangsläufig auch ein „du bist es nicht“ und damit ein „wir gegen die“.
Sie denken, das ist übertrieben? Lassen Sie uns kurz auf die Geschichte schauen:
Und auch heute haben wir viel „Wir-gegen-die“-Denken: Corona, Klima, Migration, um nur drei populäre Beispiele zu nennen.
Ich bin über zehntausend Jahre alt und mein Name ist Mensch. (Ton Steine Scherben)
Das große Problem ist, dass das Schwarz-Weiß-Denken zunimmt. Das bedeutet, dass es kein „Dazwischen“, keine Ambivalenz im Denken mehr gibt. Wer nicht dafür ist, ist automatisch dagegen, und dem muss auch nicht mehr Gehör geschenkt werden. Kann ja nur Müll sein, was der zu sagen hat.
Hier hilft es, sich einander wieder offener zu begegnen und sich wirklich zuzuhören. Es geht nicht darum, recht zu haben oder zu gewinnen. In der Paarberatung sage ich häufiger, dass man nur gemeinsam gewinnen kann – oder man verliert gemeinsam.
Gewinnen in diesem Fall bedeutet Begegnung und Wachstum, Verlieren bedeutet, an der Zugehörigkeit festzuhalten und sich dabei von der echten Verbindung zu entfernen. Denn Zugehörigkeit ohne Begegnung ist leer und lebt nur vom Label.
Wirkliche Nähe entsteht dort, wo Menschen einander zuhören, auch wenn sie nicht derselben Meinung sind. Dort, wo es nicht mehr um Rechthabereien geht, sondern Verständnis im Zentrum steht.
Freundschaft bedeutet Nähe und ehrliche Begegnung, aber nicht, dass man unbedingt und immer einer Meinung sein muss. Im Gegenteil: Erst, wenn es auch mal unterschiedliche Meinungen gibt, kann Freundschaft überhaupt erst lebendig werden.
Man kann sich austauschen und vielleicht auch mal streiten, und muss in manchen Punkten auch nicht einer Meinung sein. Aber man muss sich gegenseitig respektieren und sich zuhören und erkennen, dass die Perspektive des anderen nicht „falsch“ sein muss, sondern vielleicht nur eine neue Perspektive ist.
Daraus folgt natürlich bestenfalls die Erkenntnis, dass die eigene Perspektive auch nur eine mögliche Perspektive ist und nicht unbedingt „richtig“ sein muss.
So kann es Zugehörigkeit geben, die Wachstum nicht ausklammert.
Lebendige Zugehörigkeit erkennen Sie unter anderem an folgenden Punkten:
Wenn diese Dinge nicht mehr möglich sind, wird Zugehörigkeit zur Anpassung und Freundschaft verkommt zur Pflichtveranstaltung.
Zugehörigkeit ist wichtig, keine Frage, aber Zugehörigkeit ohne Kontakt zu sich selbst ist weder identitätsstiftend noch ist Wachstum möglich. Wir verkommen zum Mitläufer, dessen größte Angst es ist, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.
Dann braucht es manchmal einen richtigen Schuss vor den Bug, also einen Schockmoment, damit wir wir aus unserer Mitläufer-Trance aufwachen und wieder Kontakt nach innen aufnehmen können.
Wenn Sie in jedem Moment auf die Signale Ihrer inneren Ampel achten, werden Sie schnell erkennen, wenn Sie „falsch abgebogen“ sind und können eine Kurskorrektur vornehmen.
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Weil Freundschaften ein Stück Biografie sind. Sie erinnern uns daran, wer wir einmal waren, und geben uns das Gefühl von Sicherheit. Sich davon zu lösen bedeutet, ein Stück Vergangenheit loszulassen – und das fühlt sich oft wie Verrat an.
Tatsächlich ist es aber meist ein Schritt in Richtung Ehrlichkeit.
Wenn Sie merken, dass Sie sich in einer Freundschaft dauerhaft verstellen müssen, geht es nicht darum, den anderen zu verwerfen, sondern darum, bei sich selbst anzukommen. Man kann Menschen lieben und sich trotzdem weiterentwickeln – beides schließt sich nicht aus.
Nein. Auch wenn gesellschaftlich oft vermittelt wird, dass „richtige“ Freundschaft ein fester Kreis sein muss, ist das nur ein Idealbild. Manche Menschen brauchen Tiefe in wenigen Beziehungen, andere leben in Weite und Vielfalt.
Beides ist gleichwertig.
Wenn Sie eher der „soziale Dietrich“ sind, bedeutet das nicht, dass Sie oberflächlich sind, sondern dass Sie sich in verschiedenen Welten bewegen können, ohne Ihre Identität an eine Gruppe zu binden. Das kann manchmal einsam wirken, ist aber häufig Ausdruck von innerer Freiheit.
Beobachten Sie, wie Sie sich nach einem Treffen fühlen. Sind Sie inspiriert, lebendig, verstanden? Oder eher leer, erschöpft, genervt? Müssen Sie sich anpassen, um dazuzugehören, oder dürfen Sie sich zeigen, wie Sie sind?
Ein gutes soziales Umfeld ist kein Ort der ständigen Zustimmung, sondern einer, in dem Ehrlichkeit und Veränderung möglich sind. Wenn Ihr Wachstum als Bedrohung wahrgenommen wird, ist das kein Zeichen von Nähe, sondern von Stillstand.
Indem Sie bei sich bleiben. Sprechen Sie über Ihr Erleben, nicht über deren Fehler. Zum Beispiel:
Ich merke, dass ich mich verändere und nicht mehr alles für mich stimmig ist – aber ich möchte dich trotzdem in meinem Leben behalten.
Das ist respektvoll und klar. Sie dürfen sich bewegen, ohne jemanden aus Ihrem Herzen zu stoßen. Veränderung muss nicht trennen, sie kann auch Beziehung auf eine neue Ebene heben.