Innere Impulse
Veröffentlicht am: 14.07.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 14.07.2025 von Jan Göritz
Foto: © Mari Dein / Adobe Stock
„Ich weiß gar nicht (mehr), was ich wirklich will.“
Diesen Satz höre ich in meiner Praxis nicht selten. Quer durch alle Altersgruppen und durch die berufliche Palette.
Wir sind zum Teil so sehr von außen gesteuert, dass wir verlernt haben, innere Impulse wahrzunehmen. Warum ist das so? Und wie können wir den Kontakt nach innen wieder aufnehmen und stärken?
Die meisten Menschen sind andere Menschen. Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben eine Nachahmung, ihre Leidenschaften ein Zitat. (Oscar Wilde)
Das klingt zugegebenermaßen ganz schön hart, und dabei gab es zu Zeiten Oscar Wildes noch gar keine Social-Media-Plattformen.
Fremdsteuerung beginnt da, wo wir reflexhaft auf Reize von außen reagieren. Das kann eine Push-Benachrichtigung sein oder das *Pling* einer eingehenden Nachricht.
Und genau genommen werden uns ja permanent mehr oder weniger tolle Angebote gemacht. Apps empfehlen andere Apps, Netflix empfiehlt Serien, Amazon empfiehlt „interessante“ Artikel und auf Instagram sehen wir, was andere Leute alles Tolles tun. Und diese Auflistung ist wirklich nur ein kleiner Ausschnitt.
So reagieren wir uns durch unser Leben, und manch einer spürt eine immer größer werdende Leere und Unzufriedenheit in sich.
Wir verlieren den Kontakt zu uns selbst und unseren inneren Impulsen, die uns dabei helfen könnten, wirklich unser Leben zu leben.
Einige meiner Klienten berichten, dass sie das Gefühl haben, dass selbst 24 Stunden nicht ausreichen, um alle Aufgaben zu erledigen. Mails, Nachrichten, Termine, Aufgaben, Deadlines. Es ist, als würde das Leben im Always-On-Modus laufen. Gerade wenn man denkt, dass endlich ein bisschen Ruhe einkehrt, ertönt ein „Pling“, das sagt: „Gib mir sofort all deine Aufmerksamkeit.“
Heute heißt es nicht mehr „Geld oder Leben“, heute heißt es „Aufmerksamkeit oder Außenseiter“
Unsere Aufmerksamkeit ist zur Währung geworden, und wir setzen zwar nicht mehr unser Leben auf Spiel, wenn wir sie nicht hergeben, heute setzen wir – und das ist vielleicht noch schlimmer – unser Sozialleben aufs Spiel.
Denken wir zumindest.
Bei genauerer Betrachtung ist das natürlich Unsinn, aber in einer schnelllebigen Welt ist kaum noch Zeit, Dinge genau zu betrachten. Kaum hat man damit begonnen, Dinge genauer zu betrachten und vielleicht etwas tiefer zu durchdenken, kommt schon das nächste *Pling* und reißt uns wieder raus
Das Problem dabei ist, dass unser Gehirn reflexhaft auf solche Reize reagiert. Je häufiger sie da sind und je mehr davon gleichzeitig auf uns einprasseln, desto eher rutschen wir in den Reaktionsmodus. Statt aus einem klaren Eigenimpuls zu handeln, klicken und scrollen wir. Und das ist häufig wirklich nur reagieren, ohne wirklich wahrzunehmen, ob man das wirklich möchte oder nicht.
Inmitten des digitalen Dauerrauschens wird der innere Impuls also nicht lauter, um sich bemerkbarer zu machen – er wird immer leiser. Wie ein Muskel, der verkümmert, weil er nicht trainiert wird. Und wenn wir nicht aktiv gegensteuern und das Training wieder aufnehmen, bestimmen andere, was wir denken, fühlen oder tun sollen.
Eigenimpulse sind innere Impulse, die nur aus einem selbst entstehen. Erwartungen, Normen und äußere Reize beeinflussen diesen Impuls nicht.
Was im ersten Moment einleuchtend und vielleicht einfach wirkt, ist in der Realität ganz schön schwer umzusetzen. Denn wir sind so sehr von – zum Teil starken – äußeren Reizen umgeben, dass unsere innere Verbindung schon ganz schön stabil sein muss, damit sie davon unbeeindruckt bleibt.
Stellen Sie sich vor, Sie sind an einem Samstagmorgen wach. Niemand schreibt Ihnen und Sie müssen nichts erledigen. Was passiert jetzt?
• Greifen Sie zum Handy, um „kurz zu schauen“?
• Machen Sie den Fernseher an?
• Oder warten Sie mal ab, ob innere Impulse auftauchen?
Und die vielleicht wichtigere Frage lautet: Was genau passiert in Ihrem Inneren? Wie fühlt sich die Leere an, die sich einstellt, wenn nichts getan werden muss?
Viele Menschen halten diese Leere beziehungsweise Langeweile gar nicht aus und haben schneller das Handy in der Hand, als man „innere Ruhe“ sagen kann.
In einer Gesellschaft, in der wir eher auf Effizienz als auf Selbstbestimmtheit getrimmt werden, haben Stille und Selbstwahrnehmung eher einen Randplatz, sodass das Dauerrauschen häufig lauter ist als innere Impulse.
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht. Und das notwendigste Werk ist immer die Liebe. (Meister Eckhart)
Innere Impulse oder Eigenimpulse zu erkennen, ist Übungssache. Es beginnt mit Selbstbeobachtung und der Bereitschaft, auf sich selbst zu hören – auch wenn das bedeutet, unangenehme Gefühle auszuhalten (z. B. Langeweile, Unsicherheit, Reizarmut).
Es kommen immer wieder Menschen zu mir in die Praxis, die Probleme damit haben, ihre eigenen Impulse wahrzunehmen. Mal äußert sich das in der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mal ist Prokrastination das vordergründige Thema, manchmal geht es um mangelndes Durchhaltevermögen, und manchmal sind es noch ganz andere Themen.
Ein Weg, sich den eigenen Impulsen wieder anzunähern, ist eine einfache Liste. Mit dieser Liste kann man erkennen, was wirklich innere Impulse sind und was nicht.
Diese Liste hat zwei Spalten:
In der ersten Spalte finden sich „Dauerbrenner“ wie Instagram, Netflix und manchmal auch Freunde oder Familie treffen. Dann allerdings, weil es auf der anderen Seite eine Erwartungshaltung gibt („Nie hast du Zeit“, „Meldest du dich auch mal wieder?“).
Wirklich interessant für die meisten Klientinnen und Klienten ist die zweite Spalte:
Ohne dass ich eine Statistik erfasst hätte, würde ich sagen, dass „spazieren gehen“ beziehungsweise „Aufenthalt in der Natur“ sehr häufig genannt wird. Kochen wird ebenfalls häufiger genannt und richtig Spaß scheint es erst zu machen, wenn man die Rezeptbücher geschlossen lässt und improvisiert.
Außerdem scheinen innere Impulse uns gerne Musik hören zu lassen und – man höre und staune – nichts tun, ist ebenfalls häufiger dabei.
Viele Menschen sind erstaunt, wie viele innere Impulse sie tatsächlich haben, wenn sie sich erst mal darauf fokussieren und sie nicht im Alltagslärm unbemerkt vorüberziehen lassen.
Haben Sie Lust, selbst auszuprobieren, wie viele innere Impulse Sie haben und was sie Ihnen mitteilen wollen?
Dann nehmen Sie sich einen Zettel oder Ihr Handy und erstellen Sie eine eigene Eigenimpuls-Liste mit zwei Spalten:
Und apropos „Belohnung“: da fällt mir eine kleine Geschichte ein.
Die Geschichte der spielenden Kinder
Eine Gruppe von Kindern spielt regelmäßig auf einem leeren Grundstück – laut, fröhlich, kreativ. Ein älterer Mann, der sich über den Lärm ärgert, denkt sich einen Trick aus: Er sagt den Kindern, dass er es toll findet, wie sie spielen – und er ihnen jedes Mal einen kleinen Geldbetrag dafür zahlen will. Die Kinder freuen sich, kommen am nächsten Tag wieder – spielen wie immer, aber jetzt „bezahlt“. Am nächsten Tag gibt er ihnen etwas weniger. Und am dritten Tag noch weniger. Schließlich sagt er, dass er kein Geld mehr habe – und siehe da: Die Kinder verlieren das Interesse am Spielen. Sie kommen nicht mehr zurück.
Was vorher durch innere Impulse geschah, also reines, selbstmotiviertes Spiel, wurde durch äußere Belohnung umgelenkt. Als die Belohnung wegfiel, war auch der innere Impuls verschwunden.
Das ist der Overjustification Effect: Eine externe Belohnung (z. B. Geld, Likes, Lob) verdrängt und zerstört eine intrinsische Motivation.
Ergänzen Sie Ihre Liste regelmäßig,- wie verändert sich Ihr Verhalten?
Die besten Zeitfenster, um Eigenimpulse zu entdecken, sind übrigens oft morgens direkt nach dem Aufwachen oder in Momenten ohne äußeren Reiz (z. B. beim Warten, Spazieren, Duschen). Nicht umsonst heißt es, dass man auf der Toilette die besten Ideen hat.
Wenn ich das lasse: bin ich dann ein Mensch, der ich sein möchte?
Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen. (Astrid Lindgren)
Selbstbestimmung heißt natürlich nicht, dass man völlig unabhängig von allen und allem lebt. Es geht darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, wo wirklich innere Impulse am Wirken sind und wo man durch die Penetranz äußerer Reize gesteuert wird.
Ein gesundes Verhältnis zwischen Fremd- und Selbststeuerung zu finden, ist ein Prozess. Es braucht Geduld, Übung – und oft auch therapeutische Begleitung.
Und manchmal hilft eine relativ simple Frage weiter: Wenn ich das jetzt mache bzw. lasse – bin ich dann der Mensch, der ich sein möchte?