Der Blinde Fleck – Was wir nicht sehen (wollen)
Veröffentlicht am: 05.05.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 05.05.2025 von Jan Göritz
Wir alle haben ihn. Einen kleinen blinden Fleck. Physisch – und psychisch. Und während der eine gut erklärbar ist, kann uns der andere durchaus Ärger bereiten.
Der biologische blinde Fleck ist relativ einfach erklärt: Jeder Mensch hat auf seiner Netzhaut einen Bereich, auf dem keine lichtempfindlichen Sinneszellen sitzen. Da, wo der Sehnerv das Auge verlässt, können keine Informationen verarbeitet werden. Das bedeutet: ein Loch im Bild. Unser Gehirn schließt dieses Loch allerdings geschickt – es ergänzt das fehlende Stück mit dem, was drumherum zu sehen ist. Das Ergebnis? Wir merken nichts – eine perfekte Illusion.
Das benötigen Sie:
So geht’s:
Die meisten Menschen nehmen sich nicht die Zeit, sich selbst zu verstehen (Dandapani)
Ergebnis:
Der Punkt liegt genau im Bereich des blinden Flecks Ihrer Netzhaut – dort, wo keine lichtempfindlichen Zellen sitzen, weil der Sehnerv ein- bzw. austritt.
Warum sehen Sie ihn meistens trotzdem?
Ihr Gehirn „füllt“ das Bild einfach auf Grundlage der Umgebung – ähnlich wie Photoshop mit dem Bereichsreparaturpinsel. Nur, dass Ihr Gehirn das seit Ihrer Geburt in Echtzeit und permanent macht.
Kennen Sie diesen Witz?
Trifft ein älterer Fisch auf zwei jugendliche Fische und fragt: „Moin Jungs, wie ist das Wasser?“ Die jugendlichen Fische grüßen freundlich zurück und schwimmen weiter. Nach ein paar Minuten fragt einer den anderen: „Was ist Wasser?“
Hier wird’s für unsere Persönlichkeit interessant: Genauso wie unser Auge etwas nicht sieht, gibt es auch hier Bereiche, die wir selbst nicht wahrnehmen – wie die Fische aus dem Witz das Wasser. Unbewusste Anteile, ungelöste Konflikte, Verhaltensmuster und Automatismen – all das kann der blinde Fleck im psychologischen Sinne sein.
Wir sehen diese Teile nicht, weil:
Beschäftige dich mit den blinden Flecken deiner selbst und du wirst sehen. (Pascal Lachenmeier)
Der blinde Fleck in der Psyche ist wie ein Schatten, den man nicht loswird, solange man sich nicht umdreht und ihn betrachtet. Und je größer er ist, desto mehr Einfluss hat er auf unsere Beziehungen, unsere Entscheidungen, unser Lebensgefühl.
Vor einiger Zeit hatte ich einen Klienten, der sehr viel Wut in sich trug. Das äußerte sich im Alltag so, dass er ständig aneckte: bei Kollegen, Freunden, seiner Partnerin und hin und wieder sogar bei seinen Kindern. Irgendwo knirschte immer etwas im Getriebe.
In seiner Wahrnehmung waren die anderen „zu empfindlich“
Im Laufe der Zeit wurde deutlich, wie er aufgewachsen ist. „Jetzt heul nicht rum“ und „Indianerherz kennt keinen Schmerz“ waren die Standardantworten seiner Eltern in Momenten, in denen er geweint hat. Nicht immer nur aus Schmerz oder Traurigkeit. Manchmal war er auch einfach emotional überfordert.
Auf der anderen Seite fühlte er sich nur wahrgenommen, wenn er funktionierte: Keinen Ärger machte, gute Noten schrieb und im Zweifel die Zähne zusammen biss.
Als wir seine Kindheit genauer betrachten, wurde ihm klar, in was für einer emotionalen Zwangslage er sich über viele Jahre befand. Er durfte sich nie entfalten, sein Wesen durfte nie wirklich sein. Denn er musste – unbewusst weiß das jedes Kind – denen gefallen, von denen er abhängig war.
Tief unten in seinem Bauch ist über die Jahre jedoch eine emotionale Monokultur gewachsen: Wut.
So wurde dem Klienten allmählich deutlich, dass nicht die anderen „zu empfindlich“ waren, sondern der blinde Fleck seiner Psyche dafür verantwortlich war. Und so wie unser Gehirn das Bild ergänzt, das unsere Augen übermitteln, wurde auch das Bild des Klienten von sich selbst so ergänzt, dass „ich bin ok“ beziehungsweise „ich bin unschuldig“ als Quintessenz blieben.
Warum wir alle blinde Flecken haben – und wie wir sie finden
Der psychologische blinde Fleck entsteht meist durch:
Persönliches Wachstum heißt: mehr Bewusstheit, mehr Verhaltensoptionen, mehr Ich-Stärke, mehr Durchlässigkeit. (Carl Gustav Jung)
Das Heimtückische: Wir sind uns dieser Flecken nicht bewusst – eben blinde Flecken. Deshalb können wir sie auch nicht allein entdecken. Aber es gibt Wege:
Fragen Sie enge Freunde, ihren Partner oder Kolleginnen: „Was fällt dir an mir auf, was ich selbst nicht merke?“ – Und dann: Zuhören. Nicht verteidigen. Nicht rechtfertigen.
2. Journaling – Schreiben, ohne Filter
Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit, Ihre Gedanken aufzuschreiben. Oft verrät sich das Unbewusste zwischen den Zeilen. Siehe auch die 50 wichtigsten Fragen zur Selbstreflexion.
3. Therapie oder Coaching – ein professioneller Spiegel
In der therapeutischen Arbeit zeigt sich oft schon nach wenigen Sitzungen, wo der Hase im Pfeffer beziehungsweise der blinde Fleck liegen könnte. Und ja, es braucht Mut, sich diesen unbeleuchteten Ecken zu stellen. Aber es lohnt sich.
Der erste Schritt, und häufig auch die erste Hürde, ist aber immer die Erkenntnis, dass es bei einem selbst Themen gibt, die angeschaut werden wollen.
Der Blinde Fleck ist jedoch nicht nur negativ. Er zeigt uns beispielsweise, wo Entwicklung möglich ist. Wo etwas im Schatten liegt, wartet oft ein Potenzial auf seine Entfaltung. Genau deshalb lohnt es sich, hinzusehen.
Der Rorschach-Test ist hier sicherlich die bekannteste Methode, um über visuelle Eindrücke Unbewusstes bewusst zu machen.
Doch genau genommen können wir jeden Sinneseindruck nutzen, wenn wir auf unsere damit verbundenen Assoziationen achten.
Wie funktioniert der Rorschach-Test?
Der Rorschach-Test gehört zu den projektiven Testverfahren. Das bedeutet: Man zeigt einer Person mehrdeutige Tintenklecksbilder, und diese Person soll beschreiben, was sie darin sieht.
Was dabei passiert, ist psychologisch sehr spannend: Da die Bilder keine eindeutige Bedeutung haben, ist die Person gezwungen, eigene innere Bilder, Assoziationen, Wünsche oder Ängste auf das Gesehene zu projizieren.
Es ist nie zu spät, der zu werden, der du hättest sein sollen. (George Eliot)
Mit anderen Worten: Sie füllt den „leeren Raum“ mit sich selbst.
Und genau da kommt der blinde Fleck ins Spiel:
In dem, was jemand sieht, zeigt sich oft, was im Inneren wirkt – ohne bewusst reflektiert zu sein. Das kann sich z. B. zeigen in:
Ein einfaches Beispiel:
Zwei Menschen sehen denselben Tintenklecks.
Die Unterschiede sagen natürlich nichts „Objektives“ über das Bild – aber viel über die subjektive Innenwelt der Personen.
Stärken:
Grenzen:
Wenn Sie Ihren blinden Fleck entdecken, passiert etwas Faszinierendes:
Das Bild Ihrer selbst wird vollständiger. Sie erkennen nicht nur Ihre Schwächen klarer, sondern auch Ihre Ressourcen. Ihre wahren Motive. Ihre Muster.
Und das bringt drei große Vorteile:
1. Mehr Selbstwirksamkeit – Sie reagieren nicht nur, Sie gestalten aktiv.
2. Mehr Klarheit in Beziehungen – Sie übernehmen Verantwortung, statt Schuld zuzuweisen.
3. Mehr innere Ruhe – weil Sie sich nicht mehr selbst austricksen müssen.
Und ja – es ist unbequem. Sich dem eigenen Schatten zu stellen, kostet Mut. Aber es ist auch befreiend. Wer den Mut hat, hinter seine blinden Flecken zu schauen, findet nicht nur sich selbst – sondern auch den Weg zu nachhaltigem Wachstum.
Wo die Liebe herrscht, da gibt es keinen Machtwillen, und wo die Macht den Vorrang hat, da fehlt die Liebe. Das eine ist der Schatten des anderen. (Carl Gustav Jung)
Therapeutisch gesprochen: Es ist das, was Sie nicht sehen (wollen), was aber Ihr Leben mitsteuert.
Kurz: Blinde Flecken sind oft alte Schutzstrategien – nur dass sie im Erwachsenenleben häufig eher schaden als nützen.
Kurz gesagt: Mehr Klarheit = mehr Freiheit.