Männlichkeit (Teil 1): Wann ist der Mann ein Mann?

Veröffentlicht am: 28.07.2025 von Jan Göritz

Als ich 1984 das Lied „Männer“ von Herbert Grönemeyer zum ersten Mal hörte, konnte ich zwar schnell mitsingen „Männer kriegen dünnes Haar“ und „Wann ist der Mann ein Mann?“, der Hintergrund des Textes war für mich, der ich damals elf war, eher nicht interessant.

Heute begegnet mir die Frage in meiner Praxis immer mal wieder und beim Schreiben des Artikels über die innere Schonhaltung drängte sich das Thema fast auf. Denn nach meiner Beobachtung ist Vieles, das derzeit passiert, ein Auswuchs der Tatsache, dass diese von Herbert Grönemeyer vor 40 Jahren gestellte und noch viel ältere Frage bis heute nicht beantwortet ist. Wie bei vielen wichtigen Themen drücken wir den Staffelstab der nächsten Generation in die Hand, nuscheln „Viel Spaß“ und machen uns aus dem Staub.

Natürlich gibt es keine pauschale Antwort darauf, wie Männer sind oder sein sollten oder was genau „Männlichkeit“ bedeutet.

Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer. (Marie von Ebner-Eschenbach)

Aber die Sehnsucht nach einer Art Leitfaden scheint schon vorhanden zu sein, wenn ich mir manche Themen in meiner Praxis anschaue.

Themen, die mit Männlichkeit zu tun haben

  • Probleme mit emotionaler Nähe („Ich liebe sie, aber kann es irgendwie nicht zeigen.“)
  • Probleme mit Aggressionen („Ich fahre manchmal aus der Haut und verletze die Menschen, die ich liebe.“)
  • Definition über Leistung („Ich habe alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe. Aber ich bin trotzdem nicht glücklich.“)
  • Beziehungsprobleme (alte Rollenbilder funktionieren nicht mehr, neue Rollenbilder müssen noch verhandelt werden.)
  • Abwesende Väter (viele Menschen haben zwar einen Vater, kennen ihn aber eigentlich nicht. Väter – besonders in früheren Generationen – waren häufig physisch oder emotional abwesend.)
  • Probleme, sich selbst wahrzunehmen (nach wie vor kommen einige Männer erst dann in Therapie, wenn es nicht mehr anders geht. Burnout, Panikattacken und Depressionen sind zum einen häufig das Resultat von zu langem Zähne zusammenbeißen und zum andern Auslöser, eine Therapie zu beginnen.)

Was haben Männlichkeit und Macht miteinander zu tun?

Über viele Jahrhunderte bedeutete Männlichkeit, Macht und Kontrolle zu haben: Familienoberhaupt, Chef, Politiker, Soldat – alles Männer. Natürlich hat das auf vielen Ebenen Spuren hinterlassen: am deutlichsten wahrscheinlich in unseren Rollenbildern und in unserer Sprache.
Macht suggerierte den Männern Sicherheit. Wer bestimmen kann, muss sich nicht rechtfertigen, wer dominiert, zeigt keine Schwäche, und wer oben steht, hat die Kontrolle.

Kontrolle? Hat das nicht etwas mit Angst zu tun?

Ja, ganz richtig. Der Wunsch nach Kontrolle hat häufig etwas mit der Angst vor Unsicherheit zu tun. Wenn wir Schwierigkeiten haben, mit Ambivalenzen oder Unvorhersehbarem umzugehen, kann sich schnell der Wunsch nach Kontrolle melden.

Die Angst, nicht genug zu sein, ist der Motor vieler männlicher Lebensentwürfe.

Diese Angst kann zu einem Verhalten führen, das mir auch immer wieder in der Praxis begegnet: Männer versuchen, an etwas festzuhalten, das mal funktioniert hat – einfach aus dem Grund, dass die bisherige Definition von Männlichkeit für sie einen großen Teil ihrer männlichen Identität ausmacht. Aus dieser Position heraus ist jede Form der Veränderung erst einmal eine Bedrohung, die Gleichstellung der Frau ganz besonders.

Umgang mit gesellschaftlicher Veränderung

Angst sorgt ganz allgemein nicht dafür, dass Menschen Veränderungen mit offenen Armen willkommen heißen.

Doch gibt es Veränderungen, die auf unsere Ängste keine Rücksicht nehmen:

  • Es wird abends dunkel
  • Im Winter wird es kalt
  • Bei einigen Wetterlagen blitzt und donnert es.

Möglicherweise waren auch diese Veränderungen mal mit großen Ängsten besetzt. Vielleicht hatten unsere Vorfahren jeden Abend Angst, dass es für immer dunkel bleibt. Oder dass ihnen bei Gewitter der Himmel auf den Kopf fällt.

Kennen Sie diese Ängste heute noch? Nein? Vermutlich sind das Ängste, mit denen sich kaum ein erwachsener Mensch herumschlagen muss. Denn wir haben mit der Zeit einige Dinge erkannt:

  1. Wir können nichts daran ändern (Akzeptanz).
  2. Uns passiert nichts Schlimmes (Erkenntnis).
  3. Wir können Lösungen (z.B. Blitzableiter) finden (Selbstermächtigung).

Veränderungen zu akzeptieren, heißt nicht, sich aufzugeben

Genauso wie sich Dunkelheit und Gewitter nicht wegwünschen lassen, lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht wegignorieren oder durch Widerstand aufhalten. Und trotzdem versuchen einige Menschen genau das. Sie kämpfen innerlich oder auf Social Media gegen gesellschaftliche Veränderungen jeglicher Art. All das, was die eigenen Ängste und Unsicherheiten anspricht, sollte bestenfalls eliminiert werden.

Das erinnert mich an einen Satz, von dem ich gar nicht mehr weiß, woher der genau stammt:

„Das ist in etwa so schlau, wie wenn man in einen Spiegel schaut, sieht, dass man Dreck im Gesicht hat, und als Konsequenz beginnt, den Spiegel zu putzen.“

Und heutzutage ist der Spiegel eben häufig im Bereich gesellschaftlicher Veränderungen – Geschlechterrollen, Gleichberechtigung oder sonstigen Gender-Themen – zu finden.

Aber genauso wenig, wie sich die Sonne für den krähenden Hahn interessiert, interessiert sich die Veränderung für unsere individuellen Widerstände. Die Sonne geht auf, auch wenn der Hahn mal nicht kräht, und Veränderung passiert, ob wir uns dagegenstellen oder sie akzeptieren.

Wie oben schon erwähnt, ist Akzeptanz häufig eine gute Art und Weise, mit Veränderungen umzugehen. Das bedeutet übrigens nicht, alles gut zu finden und keine eigene Meinung mehr zu vertreten. Akzeptanz bedeutet, anzuerkennen, dass sich etwas verändert. Akzeptanz heißt, keine Kraft mehr in einem Kampf zu vergeuden, den man nicht gewinnen kann.
Und die Grenze verläuft häufig dort, wo der eigene Machtbereich endet.

So müssen wir akzeptieren, dass es regnet – aber nicht, dass es durch unser Dach regnet. Wir können ersteres nicht beeinflussen, aber wir können etwas dagegen tun, dass unser Dach undicht ist.

Übertragen auf „Veränderungen“ bedeutet das: Wir können Veränderungen nicht verhindern, wir können sie aber mitgestalten. Das mag vielleicht gelegentlich anstrengend sein, ist aber mit Sicherheit keine Bedrohung.

Wirklich bedroht ist nur das alte Selbstbild

Veränderung gehört nicht nur zum Leben, sie ist ein zentrales Kennzeichen des Lebens. Was sich nicht mehr verändert, steht still beziehungsweise ist tot.

Die Ahnung der Frau ist meist zuverlässiger als das Wissen der Männer. (Joseph Rudyard Kipling)

Wir haben im letzten Jahrhundert in Deutschland zwei Regime erlebt, die alles andere als offen oder progressiv waren. Und beide Regime endeten in Zerfall und Zerstörung.
Dagegen wirken die oben angesprochenen Themen doch wirklich harmlos.

Das Unbehagen vieler Männer gegenüber Gleichstellung oder der Sichtbarkeit von queeren Menschen ist in vielen Fällen nur vordergründig ein Ausdruck von Hass. Eigentlich geht es vielmehr um Verunsicherung.
Denn wenn ich meine Rolle als Mann anhand herkömmlicher Männlichkeitsideale definiert habe, könnte es sein, dass ich mich nicht mehr gewollt, nicht mehr gebraucht und damit überflüssig fühle.

Ein ehemaliger Klient, damals Anfang 50, sagte einmal in einer Sitzung:
„Ich habe mich immer als liberaler Mann verstanden. Aber jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. „Ich habe Angst, unabsichtlich etwas Falsches zu tun oder zu sagen und abgelehnt zu werden.“

Auch hier haben wir uns intensiv mit dem Thema „Männlichkeit“ auseinandergesetzt und er hat sich schließlich seine individuelle Definition von Männlichkeit gebaut:

  • Ich muss andere nicht von meiner Meinung überzeugen. Sie kann für mich trotzdem richtig sein.
  • Ich muss andere nicht dominieren und kann trotzdem mit mir zufrieden sein.
  • Es kommt nicht darauf an, ein „Alpha“ zu sein, sondern präsent zu sein.
  • Ich muss nicht alles wissen und nicht alles können.
  • Ich darf in meiner Authentizität auch widersprüchlich sein.
  • Nicht Macht ist erstrebenswert, sondern Menschlichkeit.

 

Er beschrieb es gegen Ende unserer gemeinsamen Arbeit einmal so:
„Ich bin jetzt weniger auf der Suche nach der Rolle des Mannes – und mehr dabei, meine eigene Haltung als Mensch zu entwickeln. Ich will nicht mehr ständig wissen, was ‚echte Männlichkeit‘ ist, sondern ob das, was ich tue, mit meinen Werten übereinstimmt.“

Das ist keine einfache Entwicklung, und sie passiert sicher nicht über Nacht. Aber ich denke, sie ist möglich. Gerade dann, wenn es gelingt, Männlichkeit aus ihrer Festgefahrenheit zu befreien, sodass sie sich innerhalb der gesellschaftlichen Veränderungen mit verändern kann.

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FAQ

Nein. Es geht nicht darum, Männer zu kritisieren oder zu beschämen – sondern darum, ehrlich hinzuschauen. Der Text lädt zur Selbstreflexion ein, nicht zur Anklage. Viele Männer leiden selbst unter den starren Vorstellungen von Männlichkeit, mit denen sie aufgewachsen sind. Es geht darum, diesen Druck zu erkennen – und neue, gesündere Wege zu finden.

Männlichkeit ist immer noch ein relevantes Thema, weil viele Menschen (Männer wie Frauen) damit ringen. Es geht nicht darum, Geschlecht abzuschaffen, sondern die Bedeutung, die wir ihm geben, zu überdenken. Wenn wir Männlichkeit nicht mehr als starre Rolle, sondern als bewegliche Haltung begreifen, wird sie wieder lebendig – und hilfreich.

Oft liegt das nicht an fehlendem Willen, sondern an Verunsicherung. Wenn bisherige Rollenbilder wegfallen, fehlt vielen Männern Orientierung. Das kann Angst auslösen – und Angst macht selten offen. Der Artikel möchte Mut machen, sich dieser Unsicherheit zu stellen und daraus etwas Eigenes zu entwickeln.

Nein. Toxische Männlichkeit beschreibt Verhaltensmuster, nicht den Wert eines Menschen. Wer merkt, dass er Schwierigkeiten mit Nähe, Kontrolle oder Veränderung hat, ist nicht „falsch“, sondern einfach mitten in einem Entwicklungsprozess. Es ist mutig, nicht peinlich, sich diesen Themen zu stellen.


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