Wut stellt keine Fragen
Veröffentlicht am: 17.12.2025 von Jan Göritz
Veröffentlicht am: 17.12.2025 von Jan Göritz
Wenn mir Klientinnen und Klienten gegenüber sitzen, die wütend sind, dann frage ich manchmal, was die Wut gerne sagen würde. Und relativ häufig kommt als Antwort eine Frage:
Und natürlich ist dann in diesen Fragen eine gewisse Wut enthalten, aber meines Erachtens ist Wut eher wie ein Stoppschild. Die Aussage lautet „bis hierhin und nicht weiter!“ Da ist kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen. Die Wut möchte nichts verstehen, sie möchte den eigenen Raum zurückerobern.
Es gibt zwei Dinge, über die ein Mensch niemals wütend sein sollte: über das, was er ändern kann, und über das, was er nicht ändern kann. (Thomas Fuller)
Spannend wird es in den Momenten, in denen jemand merkt, dass da zwei Bewegungen gleichzeitig laufen: Der Wunsch, klare Grenzen zu setzen und die Sehnsucht, endlich mal eine Antwort auf Fragen zu bekommen, die einen schon seit Jahren und Jahrzehnten quälen. Letzteres verbunden mit der Hoffnung, endlich Heilung zu erfahren. Und beides steckt in denselben Sätzen. „Warum warst du nicht für mich da?“ kann heißen: „Du hast versagt.“ Und gleichzeitig: „Bitte sag mir, dass es einen Grund gab, der nichts mit mir zu tun hat.“ Wut hält diese Ambivalenz kaum aus. Sie hätte es lieber eindeutig: Täter dort, Opfer hier. So muss die Wut nicht das Risiko eingehen, dass es kompliziert wird.
Was immer im Zorn begonnen wird, endet in Scham. (Benjamin Franklin)
Wenn Menschen bei mir sitzen und solche „Fragen“ formulieren, dann wird schnell sichtbar, dass Wut bisher nur eine untergeordnete Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Die Fragen, die formuliert werden, sind allesamt nicht aus einer Position der Augenhöhe gestellt. Das sind Fragen, die von unten nach oben gestellt werden.
Hier hilft Wut und hier helfen wütende Formulierungen, sich selbst erst mal eine gewisse Größe zu verschaffen. Ein Stoppschild stellt auch keine Fragen, es diskutiert auch nicht. Es sagt „STOP“.
Differenzierter betrachten und sich mit Ambivalenzen auseinandersetzen kann man sich auch später noch. Erst einmal geht es darum, in die eigene Kraft zu kommen und die eigene Größe zu erkennen. Durch geschickte Konditionierung und emotionale Erpressung, häufig seitens der Eltern, hat so mancher Mensch das bis ins Erwachsenenleben hinein nicht gelernt.
Werden Sie erstmal per Wut groß und nähern sich dann als wirklich erwachsener Mensch den verletzlichen Themen wieder an. Als Erwachsener lässt sich manch sensibles Thema einfacher be- und verarbeiten.
Um ein Verhalten zu verändern, das Sie bisher kleingehalten hat, hilft es nicht, nur 10 Prozent mehr Wut zuzulassen. Da ist die Gefahr viel zu groß, schnell wieder ins gewohnte Verhalten zurückzurutschen. Um das zu vermeiden, brauchen Sie richtig Abstand zu Ihrem bisherigen Verhalten. Machen Sie aus kalt heiß, nicht lauwarm.
In Zeiten von großem Stress oder Widrigkeiten ist es immer am besten, sich zu beschäftigen, seinen Ärger und seine Energie in etwas Positives zu stecken. (Lee Iacocca)
Das klingt dann oft so:
Hier geht es – häufig zum ersten Mal im Leben des betroffenen Menschen – nicht mehr um Erklärungen, sondern um Grenzziehungen. Die dafür nötige Klarheit kommt den Menschen, die sie sich gerade erarbeiten, häufig erst einmal wahnsinnig hart vor.
Aber das ist vielleicht damit vergleichbar, dass man kaltes Wasser als sehr warm wahrnimmt, wenn man mit sehr, sehr kalten Händen von einer Schneeballschlacht zurückkommt.
Nicht der absolute Wert ist also entscheidend, sondern die Differenz zum bisherigen Verhalten, das ein Sich-Gerademachen nicht im Repertoire hatte.
Das Problem beginnt in dem Moment, in dem aus dieser späten und notwendigen Wut ein automatisierter Dauerzustand wird. Wenn aus „bis hierhin und nicht weiter“ ein „mit niemandem, nie wieder“ wird. Wenn jede Irritation, jede Zumutung, jede Enttäuschung in die gleiche Schublade fällt wie das, was für uns früher tatsächlich kränkend und zerstörerisch war. Dann wird Wut nicht nur ein Stoppschild, sondern Totalsperrung. Nichts und niemand kommt mehr durch, nicht einmal das, was uns vielleicht gut täte.
Wenn du dich über die Fehler eines Menschen ärgerst, dann wende dich an dich selbst und untersuche deine eigenen Fehler. (Epiktet)
Ein Klient erzählte mir mal, wie er im Beruf darauf reagiert, wenn sein Chef etwas lauter wird: „Ich bin innerlich sofort weg. Nach außen lächle ich, aber der Kontakt nach innen ist sofort gekappt. Den Schmerz von damals gebe ich mir nicht mehr.“
Auf meine Frage, was er denn damit meint, erzählte er, dass er seine Mutter schon früh als potenzielle Gefahr wahrgenommen hat. „Die konnte ohne Vorwarnung explodieren. Das war für mich immer ganz schrecklich, und ich hab mich hilflos und allein gefühlt.“
Dieser Klient hatte auch als Erwachsener noch seine kindliche Strategie, wie er mit explodierenden Autoritätspersonen umgeht. Vielleicht kann man sagen, dass er seine Seele in Sicherheit gebracht hat und nach außen lediglich eine funktionale Hülle war. Wahrscheinlich war das früher die beste Strategie, die er entwickeln konnte.
Als Erwachsener jedoch gäbe es sicherlich andere Möglichkeiten, aber das Setzen der Stoppschilder ist längst ein Automatismus geworden.
Hier wird sehr gut deutlich, wie aus einer in der Kindheit erlebten Ohnmacht im erwachsenen Leben Wut wird.
Viele der Fragen, die die Klienten aus der Wut heraus stellen, sagen eigentlich: „Du hast mich allein gelassen und nicht beschützt. Ich war im wahrsten Sinn ohnmächtig, weil ich die Kraft meiner Wut noch nicht entfalten konnte.“
Und irgendwann stehen wir an der Entwicklungsschwelle von Ohnmacht zu Wut, denn die Wut lässt uns endgültig aus der Ohnmacht erwachen und bestenfalls übernehmen wir dann die Verantwortung für unser Leben und unsere Gefühle. So könnten wir die Wunden unserer Kindheit nämlich sogar selbst heilen.
An der Wut festzuhalten ist so, als würde man Gift trinken und erwarten, dass die andere Person stirbt. (Buddha)
Kommen wir aber nicht in die Wut, werden wir diesen Punkt der Verantwortungsübernahme wahrscheinlich nie erreichen. Stattdessen werden wir uns weiterhin in der eher geduckten Haltung des ängstlichen Kindes bewegen und Anweisungen „brav“ Folge leisten – auch, wenn es uns Bauchschmerzen bereitet.
Verantwortungsübernahme bedeutet übrigens nicht nur, Grenzen zu setzen. Sie bedeutet auch, sich einzugestehen, wie sehr man abhängig war von und angewiesen war auf genau die Menschen, die als unsere Eltern keinen guten Job gemacht haben. Das kann mitunter sehr schmerzhaft sein und deswegen ist manchmal der Impuls da, der sagt: „Ich brauche euch nicht mehr.“
Das ist zugegebenermaßen auch ein befreiender Schritt, aber damit umschiffen wir die Auseinandersetzung mit uns selbst, mit unserem Schmerz und mit unseren Gefühlen. Um diesen Weg der Reflexion nicht gehen zu müssen, flüchtet sich so mancher in eine Unabhängigkeit, die zwar entschlossen wirkt, aber nur das innerliche schwache und verletzte Selbst überspielt.
Zwischen kindlicher Ohnmacht und erwachsener Wut sitzt oft etwas, das noch schwerer auszuhalten ist: Trauer. Eine Trauer, die die Leere füllt, die entstanden ist durch nicht erfüllte Bedürfnisse, nicht gesehen werden, Gewalt oder emotionale Überforderung. Dazu kommt dann häufig noch die endgültige Erkenntnis, dass nichts nachgeholt werden kann. Eltern, die schon immer „so“ waren, verändern sich häufig nicht mehr signifikant.
Unser wütender Teil hält solche Endgültigkeit kaum aus. Er hält sich lieber daran fest, dass irgendwann doch ein Ausgleich geschaffen werden kann. Und wenn es nur ein Triumph für sich selbst ist. „Ich zeige euch, dass ich es geschafft habe!“
Manchmal beginnt die eigene Wut, sich auch gegen die eigenen verletzlichen Anteile zu richten und nicht mehr nur ihre Ziele im Außen – Eltern, Partner, Chefs – zu suchen. „Jetzt reiß dich mal zusammen.“, „Hör auf zu jammern.“ oder „Stell dich nicht so an.“ So beginnen wir, mit uns selbst zu reden, wenn wir es nicht schaffen, unsere Wut nach außen zu tragen.
Vergebung ist die Eigenschaft der Starken. (Mahatma Gandhi)
Wir treten sozusagen in die Fußstapfen derer, gegen die sich unsere Wut EIGENTLICH richtet. Und eine Neuinszenierung ist nun wirklich nicht das, was wir brauchen.
Was wir aber feststellen können, ist, dass Wut niemals ein Endpunkt ist. Sie ist eine Kraft, die uns helfen kann, aus alten Mustern herauszukommen. Dafür ist es unbedingt nötig, dass das Pendel weit genug ausschlägt.
Wenn das eine Extrem die erstarrte und ohnmächtige Anpassung der Kindheit ist, und das andere Extrem die Wut, die in der Lage ist, hart Grenzen zu setzen, dann ist der Platz, den wir anstreben, irgendwo dazwischen. Und den erreichen wir eindeutig leichter aus der großen Position der Wut heraus als aus der kleinen Position der kindlichen Anpassung.
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Wut fragt nicht nach Erlaubnis. Sie ist einfach da – oder sie fehlt. Die spannendere Frage ist nicht, ob Sie „dürfen“, sondern was passiert, wenn Sie es sich verbieten. Häufig bleibt die Wut dann nicht weg, sondern sucht sich andere Wege: Selbstabwertung, körperliche Symptome, scheinbar grundlose Reizbarkeit an ganz anderer Stelle.
Wut auf die Eltern bedeutet nicht automatisch, dass sie „schlechte Menschen“ sind. Sie bedeutet erst einmal nur: Da war etwas, das für das Kind, das Sie waren, zu viel oder zu wenig war. Dass Sie darüber wütend sind, ist eher ein Hinweis darauf, dass da etwas Wichtiges passiert ist – nicht ein moralisches Urteil über die gesamte Person.
Dann ist das oft kein Zeichen von Reife, sondern von Gewöhnung. Viele Menschen haben früh gelernt: Wut ist gefährlich – entweder weil sie zu Hause eskaliert ist oder weil sie gar nicht erlaubt war. Verständnis war sicherer.
Wenn Sie nur verstehen, aber nichts in Ihnen protestiert, könnte das heißen: Die Stoppschilder sind nie richtig gebaut worden. Sie können ganze Biografien lang „ich verstehe ja, warum…“ sagen und trotzdem innerlich auf dem Boden knien.
Die Frage wäre nicht: „Wie komme ich schnell zu mehr Wut?“, sondern: „Wo in meinem Leben hätte Wut eigentlich hingehört – und was habe ich stattdessen gemacht?“
Dann ist die Wut wahrscheinlich mit etwas Größerem verknüpft als mit der aktuellen Situation. Wenn Sie auf alles gleich reagieren – Chef, Partnerin, Eltern, Fremde im Straßenverkehr –, ist das ein Hinweis, dass Sie weniger auf die Gegenwart reagieren als auf ein altes Drehbuch.
Steckenbleiben in der Wut hat oft zwei Funktionen: Schutz und Orientierung. Solange jemand klar „schuld“ ist, müssen Sie sich mit bestimmten Fragen nicht beschäftigen: Was war mein Anteil? Was macht mir Angst? Wo bin ich verletzlich?
Rauskommen bedeutet nicht, die Wut abzuschaffen, sondern zu merken: „Die Geschichte ist größer als diese Person vor mir.“ Das ist selten angenehm. Man verliert die einfache Einteilung in Täter und Opfer – und gewinnt dafür etwas, das eher nach Unsicherheit aussieht.
Nein. Wut wird nicht erst gültig, wenn jemand anderes sie „abnickt“. Sie ist zunächst ein innerer Vorgang. Manche Konfrontationen sind sinnvoll, andere sind vor allem der Versuch, die eigene Geschichte nachträglich umzuschreiben.
Die riskante Erwartung lautet: „Wenn die andere Person endlich einsieht, was sie getan hat, geht es mir besser.“ Manchmal gibt es dieses Eingeständnis nicht. Oder es kommt, und innen bleibt es trotzdem leer.
Konfrontation kann ein Schritt sein – oder eine neue Runde im alten Muster. Die eigentliche Bewegung läuft meist innerlich: anzuerkennen, was passiert ist, wie klein Sie damals waren und wie groß Ihre Wut heute ist. Ob Sie das laut aussprechen oder nie thematisieren, ändert nichts daran, dass Sie damit leben müssen. Und dürfen.