Einheit. Wirklich?
Es ist mittlerweile 30 Jahre her, dass sich die formelle Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland vollzogen hat und trotzdem ist, so scheint es mir, die Mauer in den Köpfen immer noch präsent.
Aus psychologischer Sicht ist das meiner Meinung nach nicht verwunderlich.
Genau, wie sich die Auswirkungen von vielen Jahren schmerzhafter Erfahrungen im Leben eines einzelnen Menschen nicht innerhalb weniger Monate ausmerzen lassen, lassen sich auch tiefe gesellschaftliche Wunden oder traumatische Erfahrungen und ihre Folgen alleine damit heilen, dass die Umstände verändert wurden.
Flucht vor der inneren Einheit
Schmerz klingt immer nach, der individuelle Schmerz genau wie der gesellschaftliche.
Die Mittel, die in einem solchen Prozess helfen, sind:
- Geduld
- Vertrauen
- Liebe
- Mut
Gesellschaftlich wie individuell wird häufig versucht, auch nur Anflüge von Schmerz sofort zu deckeln und zu bekämpfen. Anstatt sich dem Schmerz liebevoll anzunähern und zu erkennen, dass er zum Leben dazugehört. Zu meinem, zu Ihrem und auch zum gesellschaftlichen Leben.
Wieviel Unfrieden – gesellschaftlich oder in einem einzelnen Menschen – rührt also daher, dass das Vertrauen fehlt, dass eine positive Veränderung hin zu einer inneren und äußeren Einheit überhaupt möglich ist.
Falls man sich jedoch vorstellen kann, dass eine positive Veränderung möglich sein könnte, verhindert in den meisten Fällen unsere Ungeduld das Wachsen wirklichen Vertrauens.
Die Veränderung möge sich bitte sofort vollziehen.
Entsprechend neigen wir dazu, Dinge eher mal übers Knie zu brechen, anstatt sie in Ihrem Tempo einfach geschehen zu lassen.
Mir kommt es manchmal vor, als wären wir immer auf der Flucht vor dem Status Quo.
Das, was ist, einmal wirklich zuzulassen ist Aufgrund der Angst vor dem Schmerz schwierig. Damit nehmen wir uns aber auch stets die Möglichkeit, die guten Dinge aus vollem Herzen zu genießen.
Es wirkt manchmal so, als wäre das, was ist, per se schlecht und als läge das Erstrebenswerte, die (Er)Lösung stets in der Zukunft.
Hier wäre wahrscheinlich Mut wichtig: der Mut, das, was ist, den Schmerz, den wir häufig schon sehr lange in die uns haben, anzunehmen und – wenn es sein muss – auch zu ertragen. So könnten wir einen Grundstein für eine innere Einheit legen.
Im therapeutischen Prozess wird immer wieder deutlich, dass Schmerz sich erst dann zu verändern beginnt, wenn er zugelassen wird. „Ich kann ja weinen“ ist eine Erwiderung, die ich häufig höre. Und genau genommen ist dann meist von „heulen“ die Rede.
Da kann man sich direkt vorstellen, wie wertschätzend angenommen sich der Schmerz fühlen mag.
Und das Weinen findet auch häufig dann statt, wenn der Schmerzdruck stärker wird, als die Abwehrmauer. Dann kann man für einen Moment weinen,- wenn man aber nicht beginnt, sich mit seinem Schmerz auseinanderzusetzen, wird sich auf lange Sicht nichts verändern tun die innere Sehnsucht nach Einheit bleibt weiter ungestillt.
Scheinriese Schmerz
Treten wir einmal einen Schritt zurück und machen uns bewusst, dass nichts, was wir sowieso schon in uns tragen, die Macht hat, uns umzuhauen und unser Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Wenn wir unserem inneren Schmerz eine Gestalt geben müssten, dann denken viele Menschen, er sei mindestens so groß, wie sie selbst. Doch das ist so gut wie immer ein Irrtum. Denn in der Regel handelt es sich um einen „Urschmerz“, der sich in unserer Kindheit gebildet hat.
Damals wirkte es, als sei der Schmerz groß und übermächtig. Genau deshalb haben wir es damals in den meisten Fällen vermieden, uns mit ihm auseinanderzusetzen. Die Angst vor einer Niederlage und ihren Folgen war schlicht zu groß.
Aber warum haben wir als Erwachsene Angst vor diesem Schmerz aus der Kindheit?
Das Problem ist folgendes: Wir haben nicht abgespeichert, dass es sich um den Schmerz eines Kindes handelt, sondern wir haben abgespeichert, dass der Schmerz so groß ist, wie wir. Und das lässt ihn für uns auch heute, wo wir längst erwachsen sind, noch so gefährlich erscheinen.
Wenn wir aber mutig sind und damit aufhören, vor unserem Schmerz wegzulaufen, dann können wir den Sechsjährigen erkennen, der sich eigentlich nur nach unserer Liebe sehnt und mit uns eine Einheit bilden möchte. Er ist derjenige, der sich nicht geliebt fühlt und nach Zugehörigkeit sucht. Ich muss immer wieder an den Scheinriesen aus „Jim Knopf“ denken, der aus der Ferne riesig und furchteinflößend wirkt und kleiner wird, je mehr man sich annähert.
Manchmal müssen wir uns wohl selber verzeihen, dass wir jahrelang so hart und unnachgiebig mit uns waren und den kindlichen und schmerzbesetzten Teil in uns regelrecht verdammt haben.
Äußere Einheit folgt innerer Einheit
Haben wir Geduld mit ihm und vertrauen darauf, dass wir eine liebevolle und stabile Verbindung aufbauen können, so dass der Schmerz wieder fließen und sich somit verändern kann. Kreativität, Empathie, Menschlichkeit, das Gefühl eine Einheit zu sein und Lebensfreude sind nur ein paar positive Auswirkungen von gelöstem Schmerz.
Und für uns als Gesellschaft wäre es sicherlich positiv, wenn wir es schaffen würden, nach und nach Ost-West-Klischees über Bord zu werfen und beginnen würden, die Menschen hinter den Klischees zu sehen.
Dann könnten wir erkennen, dass wir unterm Strich alle ähnliche Bedürfnisse haben:
- Verbundenheit
- Respekt
- gesehen werden
- Liebe
um nur ein paar zu nennen.
Oder anders ausgedrückt: