Ständig Alarm – posttraumatische Stagnation (Teil 1)

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Trauma und posttraumatische Stagnation

Herr Schulze, ein Klient von mir, befindet sich in seinen mittleren Fünfzigern. In seiner Kindheit hat er traumatische Ereignisse erlebt, die durch die Tatsache verschärft wurden, dass seine Eltern ihn nicht schützten, sondern im Gegenteil, ihn verraten haben.

Seine Mutter ist mittlerweile verstorben, doch sein Vater stellt nach wie vor eine belastende Präsenz in seinem Leben dar. Herr Schulze beschreibt es so, als hätte sein Vater einen geheimen Zugang zu seiner Seele.

Nach einigen Jahren im Ausland kehrte Herr Schulze zurück und zog unweit seines Vaters. Seitdem bemerkt er, wie er „innerlich erstarrt“, um seine Worte zu verwenden, sobald er seinem Vater begegnet – selbst ein flüchtiger Blick auf ihn durch das Fenster lässt ihn erstarren.

Herr Schulze lebt alleine. Zwar hatte er in der Vergangenheit einige Beziehungen, jedoch waren diese weder glücklich noch von langer Dauer. Er empfindet eine gewisse Entspannung in seinem Alleinsein, obwohl er grundsätzlich offen für eine Partnerschaft wäre.

Insgesamt scheint es, als wäre Herr Schulze in seiner persönlichen Entwicklung festgefahren. Es wirkt, als wären noch einige Schritte erforderlich, um innerlich frei und erwachsen leben zu können.

Herr Schulze spürt diese Stagnation auf eine vage Weise, ist jedoch nicht in der Lage, die genaue Ursache seiner Blockade zu identifizieren. Es handelt sich um eine posttraumatische Stagnation.

Ich entwickle mit ihm das Bild einer Burg, die gerade angegriffen wird, um die Situation seiner Kindheit zu beschreiben.

Wenn die Burg unter Beschuss ist, dann ist es wichtig, alle Aufmerksamkeit nach außen zu richten und in den Verteidigungsmodus zu schalten.

Ist der Angriff jedoch vorüber, ist es genauso wichtig, dass der Alltag in der Burg weiterläuft: Felder wollen bestellt und gepflegt werden, die Handwerker haben zu schneidern, zu schustern oder zu schmieden und natürlich die entstandenen Schäden auszubessern.

Doch was wäre, wenn nach dem Angriff der Verteidigungsmodus einfach aufrecht erhalten würde?

Die Burg wäre auf jeden Fall nach wie vor gut abgesichert. Auch wenn aktuell keine Gefahr droht. Das Leben in der Burg würde zum Erliegen kommen. 

Traumatische Erlebnisse können lange Schatten werfen

Es gibt Menschen, die kennen keinen anderen Zustand, als Abwehrhaltung. Häufig handelt es sich hier um Menschen, die in ihrer Kindheit mehr oder weniger schwere, dauerhafte traumatische Erfahrungen machen mussten.

Traumatische Erfahrungen sind in diesem Kontext längst nicht nur gewalttätige oder sexuelle Übergriffe. Traumatische Erfahrungen können auch permanente Kritik an der eigenen Person, Ignorieren oder Schweigen oder auch ein permanentes Abwerten und Erniedrigen der eigenen Person sein.

All dies führt dazu, dass man schon als Kind dazu gezwungen ist, die permanenten emotionalen Angriffe abzuwehren.  Das Kind lebt also in einem permanenten Überlebensmodus: Für inneres Wachstum und innere Reifung ist keine ausreichende Kapazität vorhanden. So rutscht das Kind in eine posttraumatische Stagnation.

Häufig entwickeln sich diese Kinder zu sehr unsicheren und zum Teil auch unselbstständigen Erwachsenen, die ihrerseits die gewohnte Alarmbereitschaft nach außen und die damit einhergehende posttraumatische Stagnation am Leben halten. Die permanente Alarmbereitschaft wird beispielsweise durch eine große Schreckhaftigkeit sichtbar. 

Selbst Jahre nach dem Auszug aus der elterlichen Umgebung können unerwartete Situationen oder neue Menschen das tief verinnerlicht Abwehrprogramm wieder starten.

Im Falle von Herrn Schulze wirkt es fast so, als würde er die Nähe zu seinem Vater bewusst suchen, um dem Vater die Chance zu geben, Dinge „wieder gut“ zu machen und dem innerlich erstarrten Teil die Erlaubnis zum Wachsen zu geben.

Da der Vater aber nicht fähig oder nicht willens ist, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu erkennen, dass er (höchstwahrscheinlich) selber einen großen Schmerz in sich trägt, sind die unbewussten Heilungsversuche von Herrn Schulze kontraproduktiv. Sie reaktivieren das bereits vorhandene Trauma lediglich ein ums andere Mal.

Im Übrigen muss man das Trauma gar nicht persönlich erfahren haben. Es reicht sogar, wenn einer unserer Vorfahren eine nicht aufgearbeitete traumatische Erfahrung gemacht hat. 

Transgenerationales Trauma

„Transgenerationales Trauma“ bezeichnet emotionale und psychische Belastungen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, ohne dass die nachfolgenden Generationen das Trauma selbst erlebt haben. Solche Traumata können sich in verschiedenen Formen manifestieren, zum Beispiel in Form von Angststörungen, Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen.

Ein Beispiel für ein Transgenerationales Trauma könnte der Fall einer einzelnen Person sein, deren Großeltern oder Eltern schwere körperliche und emotionale Misshandlungen erlebt haben. Nehmen wir beispielsweise Anna, deren Großmutter in ihrer Kindheit schwer misshandelt wurde. Diese Erfahrung könnte dazu geführt haben, dass Annas Großmutter Schwierigkeiten hatte, stabile und gesunde Beziehungen zu ihren eigenen Kindern – Annas Mutter – aufzubauen.

Obwohl Anna nie selbst misshandelt wurde, könnte sie unbewusst die emotionalen Narben des Traumas ihrer Großmutter tragen. Sie könnte feststellen, dass sie Schwierigkeiten in Beziehungen hat, da ihre Mutter möglicherweise nicht gelernt hat, wie man Liebe und Sicherheit effektiv kommuniziert, weil sie es selbst nie erfahren hat. Diese Muster können unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben werden, bis ein Familienmitglied, wie Anna, Hilfe sucht und lernt, die Ketten des Traumas zu durchbrechen, um ein gesünderes emotionales Leben zu führen.

Das Bewusstsein für transgenerationale Traumata ist ein wichtiger Schritt, um die Kette der Traumaübertragung zu durchbrechen und zukünftigen Generationen zu ermöglichen, frei von der Last der Vergangenheit aufzuwachsen. Es fördert eine gesunde psychische Entwicklung und stärkt die Resilienz der Individuen, damit sie ein erfülltes und ausgeglichenes Leben führen können.

Lesen Sie Teil 2 hier: Wie Sie die posttraumatische Stagnation überwinden können.

Posttraumatische Stagnation - Burg - Angriff - Jan Göritz - Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologischer Berater, Psychotherapeut (HeilprG) in Hamburg
Foto: © StockMedia / Adobe Stock

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