Sicherer Stand (Teil 1)

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Sicherer Stand im Hier und Jetzt

Viele Menschen haben in ihrer Kindheit oder in ihrer Jugend Situationen erlebt, die sie zum damaligen Zeitpunkt emotional überfordert haben.
Dabei ist es natürlich typabhängig, welche spezifischen Ereignisse überfordernd wirkten.
Man kann also keine „Rangliste“ von traumatischen Kindheitserlebnissen erstellen und schon gar nicht von der Art des Erlebten Rückschlüsse auf den heutigen seelischen Zustand eines Menschen ziehen. Leid und der individuelle Umgang mit Leid sind nicht vergleichbar.
Wenn es aber in der Vergangenheit ein emotional überforderndes Erlebnis gab, das auch heute noch Einfluss auf das eigene Leben hat, dann besteht noch eine Verbindung zu dem Zeitpunkt, an dem das traumatische Erlebnis stattgefunden hat. Genauer gesagt besteht noch eine emotionale Verbindung zu dem Menschen, der wir zum Zeitpunkt des Erlebnisses waren.
Man kann sagen, dass ein Teil der Persönlichkeit noch in der Vergangenheit gefangen ist.
Körperlich sind wir zwar gewachsen, gereift und erwachsen geworden,- auf der seelischen Ebene ist diese Reife dann aber nicht im gleichen Maße vorhanden. Es besteht ein gewisser Nachholbedarf bezüglich des inneren Erwachsenwerdens.

Emotionaler Spagat

Bildlich kann man sich das so vorstellen, dass ein Bein am Zeitpunkt des traumatischen Erlebens stehen bleibt, während sich das andere auf dem eigenen Lebensweg weiter bewegt. Wenn der Abstand zwischen den Füßen noch nicht so groß ist, fällt es einem in der Regel noch gar nicht auf. Man steht noch relativ sicher und bequem. Später ist es dann wahrscheinlich bereits etwas wackelig, aber noch mehr oder weniger gut aushaltbar.
Erst, wenn der Abstand zu groß wird, beginnt es, auch spürbar zu schmerzen. Häufig ist das der Moment, an dem wir registrieren, dass irgendetwas in unserem Leben nicht so ist, wie es sein sollte.
Im äußeren Erleben hat man an diesem Punkt häufig das Gefühl, an eine unsichtbare Grenze zu stoßen. Man kann scheinbar tun, was man möchte und kommt auf seinem Lebensweg trotzdem nicht weiter.
Häufig klagen Menschen an diesem Punkt über „chronische Unzufriedenheit“. Und tatsächlich ist es ja ein Zustand eines inneren Konflikts – also Unfrieden.
Konkret schildern Menschen an diesem Punkt, dass sie immer wieder vom Regen in die Traufe kommen. Man wagt immer wieder den Neubeginn – häufig beruflich oder partnerschaftlich – und kommt immer wieder an den gleichen Punkt der inneren Unzufriedenheit. Das ist eine Folge der Resonanz.

Raus aus dem Teufelskreis

Doch was kann man tun, um mit beiden Beinen in der Gegenwart einen sicheren Stand zu haben?
Dafür ist es wichtig, herauszufinden, warum dieser eine Teil von uns noch in der Vergangenheit fest hängt.
Häufig ist es wie bei einem Computerspiel, in dem man bestimmte Gegenstände eingesammelt haben muss, um ins nächste Level zu gelangen. Nur, dass es in diesem Fall nicht im Gegenstände geht, sondern um bestimmte emotionale Zustände, die noch geklärt werden müssen. Dabei gibt es grundsätzlich einen großen Unterschied:

  • Entweder geht es darum, ein Defizit aufzufüllen
  • oder es geht darum, angestaut Gefühle wieder ins fließen zu bringen.

Im ersten Fall geht es häufig um Gefühle wie Liebe, Vertrauen, Mut, im zweiten Fall stehen eher destruktive Gefühle wie Ärger, Zorn, Wut oder Hass im Vordergrund.

Emotionale Mangelernährung

Aber der Reihe nach:
Es ist logisch, dass sich Kinder anders entwickeln, wenn positive und stärkende Emotionen und Ressourcen wie Liebe und Vertrauen fehlen, als wenn diese für Kinder ganz natürlich vorhanden sind.
Man kann durchaus von „emotionaler Mangelernährung“ sprechen. Denn genau, wie sich Kinder körperlich nicht richtig entwickeln, wenn wichtige Nährstoffe fehlen, besteht die Gefahr der psychischen Fehlentwicklung, wenn wichtige Emotionen nicht stattgefunden haben und dadurch Ressourcen nicht ausgebildet worden sind.
Der Unterschied ist der, dass sich körperliche Mangelernährung häufig viel unmittelbarer bemerkbar macht und entsprechend schnell gegengesteuert werden kann.
Außerdem ist es für uns Menschen selbstverständlich, dass wir irgendwann selber die Verantwortung für unsere Ernährung übernehmen müssen – und auch können.
Was die emotionale Mangelernährung betrifft, so verhält es sich fast gegenteilig. Die Folgen werden meistens erst sehr viel später sichtbar, nämlich dann, wenn der „Spagat“ zu schmerzhaft wird.
Zwischen Ursache und Auswirkung können ohne weiteres zwei oder drei Jahrzehnte liegen, so dass es uns schwer fällt, die Ursache für unseren momentanen Zustand zu erkennen. „Ich verstehe das gar nicht… eigentlich ist doch alles gut“ ist ein Satz, den ich in Vorgesprächen häufiger höre.
So selbstverständlich es für uns ist, als Erwachsene auf der körperlichen Ebene die Verantwortung für uns zu übernehmen, ist es auf der seelisch-emotionalen Ebene häufig nicht.
„Ich habe Hunger, also mache ich mir etwas zu essen“ ist meistens selbstverständlicher als „das Kind in mir fühlt sich ungeliebt, also beginne ich, dieses Kind zu lieben“. Dabei wäre dies eine gute Möglichkeit, den zweiten Fuß Stück für Stück Richtung Gegenwart zu bewegen.
Stattdessen stehen wir hilflos da mit unserem inneren Mangel, was aber auch kein Wunder ist, denn der bedürftige Teil in uns ist ja in der Regel klein und hilflos. Meistens liegt das Alter dieses Teils zwischen fünf und zehn Jahren, ist also weit davon entfernt, selbstständig sein zu können.
Konkrete Lösungswege lesen Sie hier (Teil 2).

Sicherer Stand - Jan Göritz - Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater in Hamburg
Foto: © Black Salmon / shutterstock

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