Wenn Trauer und Schmerz zurückgehalten werden

Umgang mit Schmerz

Trauer und Schmerz hat im Laufe seines Lebens jeder schon kennengelernt. Wie stark deren Einfluss auf unser Leben ist, hängt in hohem Maße davon ab, wie wir gelernt haben, mit Gefühlen wie Trauer, Enttäuschung und Schmerz umzugehen.
In machen Familien ist es in Ordnung, Gefühle zu haben und zu zeigen, in anderen Familien scheint es eher so zu sein, dass die Eltern selbst keinen guten Umgang mit ihren Gefühlen gefunden haben und somit durch die Emotionalität des Nachwuchses überfordert sind.
Entsprechend reagieren sie in solchen Momenten auf ihr Kind so, wie sie sich auch selbst behandeln:

  • „Indianerherz kennt kein‘ Schmerz.“
  • „So schlimm ist es doch gar nicht.“
  • „Reiß dich doch mal zusammen!“
  • „Jetzt ist aber gut!“
  • Trostpflaster (Süßigkeit)
  • Ablenkung (Unternehmung, Fernsehen)

Resonanz als Möglichkeit zur Selbstverantwortung

Das Zeigen von Schmerz und Trauer seitens des Kindes resoniert also direkt mit dem kindlichen Schmerz der Eltern. Allerdings erkennen sie in diesem Moment selten, was los ist. Häufig nehmen sie nur wahr, dass sie genervt oder gereizt sind und bemühen sich, die vermeintliche Störquelle ruhigzustellen.
Das ist in soweit nachvollziehbar, als dass die Eltern in solchen Augenblicken nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, so dass es ihnen meistens unmöglich ist, sich zurückzunehmen. Nur in diesem Fall jedoch könnten sie begreifen, was in ihnen abläuft.
Wenn so etwas allerdings häufiger passiert, ist die Chance groß, dass Kinder im Umgang mit Schmerz und Trauer in die Fußstapfen ihrer Eltern treten.
Sinnvoller ist es, solche Situationen im Nachhinein zu betrachten und so dem eigenen Verhaltensmuster auf die Spur zu kommen.

Rationalität als Abwehr

Im Normalfall ist es uns im Nachhinein bewusst, wenn wir uns in einer Situation nicht erwachsen, nicht eigenverantwortlich verhalten haben. Häufig wird es so beschrieben, dass in dem Moment eine Klappe fällt und man in diesen Sekunden beziehungsweise Minuten wie ferngesteuert agiert.

„Als ob mir jemand das Gehirn abschaltet.“ (Klient in meiner Praxis)

Nach meiner Ansicht ist das sehr treffend formuliert. Denn häufig schwelt hier ein innerer Konflikt zwischen aufgestauten unangenehmen Gefühlen, die den Menschen überfordern und eines meist exzellent entwickelten Intellekts, dessen hauptsächliche Aufgabe es ist, genau diese Gefühle nicht zuzulassen.
Manchmal brechen die Gefühle durch und übernehmen für einen Moment die Kontrolle:

Der aufgestaute Fluss

Ich benutze gerne die Metapher vom Fluss, um zu beschreiben, was passiert, wenn ein Mensch sich über einen langen Zeitraum von seinen Gefühlen abwendet.

Stellen Sie sich vor, Ihre Gefühle wären ein Fluss, der sich friedlich durch die Landschaft schlängelt.
Wie an vielen Flüssen siedeln sich auch hier in Ufernähe Menschen an, für die der Fluss eine zentrale Rolle im täglichen Leben spielt:

    • er liefert Trinkwasser für Mensch und Tier
    • er bewässert die Felder
    • wenn er mal ein wenig über die Ufer tritt, dann lagert sich nährstoffreicher Schlamm ab, der den Boden düngt
    • geangelte Fische bieten eine zusätzliche Nahrungsquelle
    • er ist wichtig für die Hygiene: waschen, Wäsche waschen, abwaschen

Sie sehen: ohne diesen Fluss wäre ein Leben in dieser Form gar nicht möglich.
Und nun gibt es eine schwere Erschütterung in Form eines Erdbebens. Dabei stürzen Felsen ein und unterbrechen den Fluss des Wassers,- es hat sich ein Damm gebildet.

Was hat das für Konsequenzen?

Wie die Konsequenzen auf Seiten der Siedlung aussehen, kann sich wahrscheinlich jeder denken:

    • weniger Nahrung und weniger abwechslungsreiche Ernährung
    • Anstrengungen bei der Beschaffung von Trinkwasser
    • weniger Hygiene

Insgesamt herrscht hier also eine deutlich verringerte Lebensqualität vor.
Auf der anderen Seite des Dammes ist das zu viel, was unten fehlt: Wasser.
Dadurch, dass es nicht mehr in seiner natürlichen Bahn fließen kann und aufgestaut wird, gibt es folgende Möglichkeiten:

    • Das Wasser sucht sich unkontrolliert neue Wege um den Druck zu verringern.
    • Wenn der Damm bricht, fegt die Wucht des Wassers alles hinweg. Dabei achtet es nicht darauf, wer oder was ihm zum Opfer fällt.

Konsequenzen im Leben

Natürlich kann man ein Leben ohne Gefühle gestalten, allerdings besteht die Gefahr, ein gut durchdachtes und kontrolliertes Konstrukt zu erschaffen, das sich zwar sicher verwalten aber jede Form von Lebendigkeit vermissen lässt.
Das ist tatsächliich häufiger der Fall als man vermuten mag.

Emotionale Dürre lässt sich zwar aushalten, Freude und Erfüllung benötigen jedoch andere Voraussetzungen.

Häufig schildern mir die Betroffenen schmerzhafte Begebenheiten, beispielsweise mit den eigenen Eltern,- dabei bleiben sie jedoch selbst bei extremen Erfahrungen ganz sachlich.
Das wäre vielleicht nicht unbedingt schlimm mag man denken. Möglicherweise,- aber es wird spätestens dann problematisch, wenn angenehme und freudvolle Gefühle genau so sachlich abgehandelt werden.
Denn dann kann es sein, dass auch Lebensfreude, Begeisterung und Neugier rational betrachtet werden und auf der Emotionalitäts-Skala kaum noch Ausschläge zeigen.
Auf der anderen, also der emotionalen Seite steigt der Druck. Und da Druck nicht bis ins Unendliche steigen kann, muss er abgebaut werden oder entweichen.

  • Eine Möglichkeit des Druckabbaus ist der in der Metapher beschriebene Dammbruch. Das ist vergleichbar mit dem Moment, wo bei jemandem die Klappe fällt, also jegliche Rationalität, und damit auch jegliche Möglichkeit der Regulierung für einen Moment ausgeschaltet ist.
  • Eine andere Möglichkeit ist die, dass sich das Wasser neue Wege sucht. Dabei kann es natürlich auch zu Schäden kommen. Auf uns Menschen bezogen könnte es beispielsweise zu Panikattacken kommen. Also ein unkontrollierter Abbau emotionalen Drucks. In der Regel kommen Panikattacken überraschend was Zeit und Ort betrifft.
  • Die für alle Beteiligten beste Möglichkeit wäre wahrscheinlich die, das aufgestaute Wasser langsam und kontrolliert um den Staudamm herum ins natürliche Flussbett umzuleiten und gleichzeitig den Damm abzutragen, so dass wieder ein natürlicher Fluss möglich ist.
    Das können wir Menschen über Wahrnehmen und Annehmen unseres Schmerzes und unserer Trauer erreichen.

Angst vor dem Unbekannten

„Wahrnehmen und Annehmen“ ist so einfach gesagt. Aber wenn wir schon seit Jahren einen großen Bogen um unsere Trauer und unseren Schmerz machen, dann wird seine gefühlte Bedrohung mit großer Wahrscheinlichkeit immer stärker und wir trauen uns nicht einmal, auch nur einen kurzen Blick darauf zu werfen.
„Und ausgerechnet das soll ich jetzt bewusst wahrnehmen?“ mögen Sie denken.
Wir haben alle mehr oder weniger Angst vor dem, was wir nicht kennen. Denn gerade das lädt uns dazu ein, uns unsere eigenen Vorstellungen von etwas zu machen. Und die sind fast immer Bedrohlicher, als sich die Situation eigentlich darstellt.
Was das Zulassen von Gefühlen betrifft, so haben viele Menschen Angst, die Kontrolle zu verlieren. „Wenn ich meine Gefühle kontrollieren kann, dann kann ich auch mein Leben kontrollieren.“ sagte einmal ein Klient in einer Sitzung. Im weiteren Verlauf der Sitzung haben wir erarbeitet, dass zwischen „Gefühle kontrollieren“ und „Gefühle wegsperren“ kein so großer Unterschied ist. Er wolle „nur die schlechten Gefühle wegsperren“, sagte er. Auf meine Frage, ob er lieber Sonne oder Regen möge antwortete er: „Sonne natürlich.“ Als ich ihn fragte, ob er Regen abschaffen würde, wenn er könnte, wurde er nachdenklich.

Das Positive an Trauer und Schmerz

Sie sehen: selbst das, was man selber nicht mag, erfüllt einen Sinn. In der Natur genauso wie in uns selbst.
Zum einen gibt es das eine nicht ohne das andere, zum anderen ist nach meiner Erfahrung das Zulassen von Trauer und Schmerz die Tür zu tiefen Verbindungen und wirklicher Nähe. Sowohl zu uns selbst als auch zu anderen.

Ohne Trauer keine Tiefe,
ohne Tiefe keine Nähe.

Leichtigkeit ist absolut wichtig: in der Disco, auf Partys oder auf Konzerten. Aber können Sie sich ein Leben vorstellen, das nur aus leichter Unterhaltung besteht? Ein Leben, in dem Ihre zweifelsohne vorhandenen Bedürfnisse nach Nähe, Kontakt und tiefem Verständnis keinen Raum bekommen? Wahrscheinlich nicht.
Selbst wenn Sie so einen großen Bogen um Schmerz und Trauer machen könnten, würden Sie vermutlich trotzdem kein erfülltes Leben führen. Denn dazu gehört ein Zulassen von allem, was – ob Sie es wollen oder nicht – ohnehin da ist.
Versuchen Sie also, Ihrem inneren Fluss das fließen zu ermöglichen. Und erinnern Sie sich immer daran, dass im Normalfall nichts in uns so fürchterlich sein kann, als das wir damit nicht fertig werden könnten.

Trauer ist ein Fluss - Jan Göritz - Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater in Hamburg

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